Demokratie! - wofür wir kämpfen
Versammlungen zum Ausdruck kommt, ermöglicht und erfordert Lernprozesse. Wenn es jemals so etwas wie die »Autonomie des Politischen« à la Schmitt gab, dann sicher nicht hier. Die konstituierenden Entscheidungen der Teilnehmer kommen durch eine komplexe Wissens- und Willensbildung zustande, und diese erfordern Zeit. Entscheidungen werden nicht von Führern oder Vorständen getroffen. Die oftmals langwierigen Entscheidungsverfahren sind auch Ausdruck der inneren Vielfalt der Bewegungen. Die spanischen indignados und die Besetzer der Wall Street sind gute Beispiele für diese Komplexität, in ihren Protesten mischen sich die Kritik an gängigen Politikformen (zum Beispiel der repräsentativen Demokratie, Wahlen und so weiter), der Protest gegen soziale Ungleichheit und der Widerstand gegen den Finanzkapitalismus.
Schließlich ermöglicht die autonome Zeitgestaltung der konstituierenden Prozesse die Bildung politischer Affekte. Der Tahrir-Platz, der Rothschild Boulevard, das besetzte Regierungsgebäude von Wisconsin und der Syntagma-Platz wurden alle von intensiven Leidenschaften geprägt: An diesen Orten werden Leidenschaften zum Ausdruck gebracht, aber vor allem werden sie gebildet. Berufspolitikern und anderen, die nicht eine bestimmte Zeit in diesen Zeltlagern verbracht haben, fällt es schwer zu verstehen, in welchem Maße diese konstituierenden Erfahrungen von Gefühlen, vor allem von Begeisterung getragen werden. Die räumliche Nähe erleichtert die gemeinsame Bildung der Affekte,aber genauso entscheidend sind die intensiven Erfahrungen der Zusammenarbeit, die gemeinsame Schaffung von Sicherheit in einer Situation extremer Verwundbarkeit und die kollektiven Beratungen und Entscheidungsprozesse. Die Protestcamps sind ein großes Labor zur Produktion sozialer und demokratischer Leidenschaften.
Gegengewalten
Die Verfassungsgebung arbeitet langsam und gründlich und richtet sich nach ihrer eigenen Uhr. Einige drängende Probleme können jedoch nicht warten. Was nützt der schönste Verfassungsprozess, wenn hier und jetzt Menschen leiden? Bis wir unsere perfekte demokratische Gesellschaft geschaffen haben, könnte die Erde längst zerstört sein.
Der Verfassungsprozess muss daher von Gegenkräften begleitet werden, die sofort Maßnahmen gegen soziale Missstände und Umweltgefahren ergreifen. Diese Zweigleisigkeit erinnert an den Verfassungsprozess im England des 13. Jahrhunderts. Damals wurde die Magna Charta von einer Waldcharta begleitet – ein Dokument, das nach Ansicht von Peter Linebaugh bis heute viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Die Magna Charta schrieb die Rechte der Bürger gegenüber dem König fest, während die Waldcharta den Zugang zum Gemeinsamen regelte. Der Zugang zum Wald war damals gleichbedeutend mit dem Zugang zu Nahrung, Brennholz und anderen lebenswichtigen Dingen. Heute muss ein Verfassungsprozess von ähnlichen Maßnahmen begleitet werden, um ein Leben der Menschen in Sicherheit, Gesundheit und Würde zu gewährleisten.
Dazu gehört auch der Schutz der Umwelt. Der Zerstörung des Planeten, das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten und die Verseuchung von Erdreich und Meeren geht ungebremst weiter. Der von den Wissenschaftlern vorhergesehene Point of no Return des Klimawandels rückt immer näher, doch die Kohlendioxidemissionen steigen unvermindert weiter. Schändlicherweise sprechen die Mächtigen längst nicht mehr davon, den Klimawandel zu verhindern – es geht nur noch darum, dass wir uns ihm anpassen. Meere werden durch Ölkatastrophen verseucht, aus Atomkraftwerken tritt Strahlung aus, das Trinkwasser wird durch die Verarbeitung von Ölsand vergiftet – die Liste der Katastrophen wird täglich länger, doch während der Krise wurde der Umweltschutz sogar noch weiter zurückgefahren. Man gewinnt den Eindruck, die Sorge um das Wohl des Planeten sei ein Luxus, den man sich in guten Zeiten gönnt, nicht die Voraussetzung für das Überleben von Menschen, Tieren und Pflanzen. Dass die transnationalen Konzerne weder willens noch in der Lage sind, ihre umweltzerstörenden Praktiken einzustellen, ist nicht weiter verwunderlich. Aber auch nationale Regierungen und internationale Institutionen erweisen sich als unfähig, die großen Probleme zu lösen: Sie sind nicht einmal in der Lage, sich auf Maßnahmen zu einigen, geschweige denn, diese umzusetzen. Es scheint, als sei die Menschheit außerstande, sich selbst an der Zerstörung des Planeten und ihrer eigenen Lebensgrundlage zu
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