Demonica - Ione, L: Demonica
Balkongeländer.
Shade tastete wild nach dem Geländer, um Halt zu finden, und für den Bruchteil einer Sekunde sah es aus, als würde er hintenüberkippen und fünfzehn Stockwerke tief stürzen. Eidolon packte das Hemd seines Bruders und zerrte ihn so ruckartig zurück, dass sie beide ins Taumeln gerieten. Der Schreck verscheuchte seine Wut, aber Shades fachte er erst so richtig an.
»Du blindes, selbstgerechtes Arschloch!« Er schubste Eidolon gegen die Glastür. »Verdrängst du absichtlich, dass er in einer Seitengasse irgendeine Hure gefickt hat, während wir in dieser Nacht in Chicago Wraith wieder zusammengeflickt haben? Erinnerst du dich denn nicht mehr, wie er nach dem Wandel total ausgetickt ist, wie er vergewaltigt und getötet hat?« Shade schloss die Augen und ballte die Fäuste, und als er die Augen wieder öffnete, hatte sich seine Miene beruhigt, so wie auch seine Stimme. »Du weißt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ein anderer Dämon ihn ausgeschaltet hätte. Die Aegis war einfach nur schneller.«
Eidolon schluckte. Blickte auf den Betonfußboden. Rieb sich den Nacken, aber er konnte es nicht länger hinauszögern. Shade sagte die Wahrheit und hatte ihn damit bei den Eiern. »Heilige Scheiße«, flüsterte er.
»Mann, ich weiß ja, dass ihr euch nahe wart, vielleicht auch, weil Wraith und ich euch ein bisschen außen vor gelassen haben mit unserer komischen Gedankenverbindung. Ach, ich weiß auch nicht.« Shade ließ seine Pranke auf Eidolons Schulter fallen und schüttelte reumütig den Kopf. »Tut mir leid wegen Roag. Du tust mir leid. Aber seinen Verlust habe ich nie wirklich bedauern können.«
Eidolon runzelte die Stirn. Roag und er waren einander nahe gewesen, aber nicht so wie Wraith und Shade. Selbst jetzt, wo er seinen Bruder ansah, der mit seinem langen Haar Wraith mehr ähnelte als Eidolon, konnte er die Mauer zwischen ihnen spüren. Eine Mauer, die zwischen Wraith und Shade nie existiert hatte. Diese beiden gingen völlig offen miteinander um; ein Satz wie »So genau wollte ich es gar nicht wissen« kam in ihrem Vokabular nicht vor. Aber Eidolons eher zurückhaltende Natur hatte gut zu Roags verschlossener Art gepasst. Verschlossen und … grausam. Eidolon geriet ins Wanken, war dankbar für den Halt, den Shade ihm gab. Ihr Götter, er hatte über so vieles hinweggesehen …
»Wo bist du gewesen?«, knurrte Shade Roag an, als Eidolon Wraiths zerschmetterten Körper von der Decke herabließ und die Ketten, die ihn hielten, laut rasselten.
Roag schlenderte durch die aufgegebene Brauerei, wirbelte die Haufen Vampirstaub auf und betrachtete in aller Ruhe die beiden, die sie am Leben gelassen hatten. Sie lagen aneinandergefesselt in einer Lache ihres eigenen Blutes. »Ihr beide seid doch sehr gut ohne mich zurechtgekommen.« Er zeigte mit dem Kinn in Wraiths Richtung. »Sieht so aus, als ob ihr unseren verloren geglaubten kleinen Bruder gefunden hättet. Ist nicht mehr viel von ihm übrig. Lasst ihn liegen. Gehen wir lieber und suchen die Hure, die ich gerade gebumst habe.«
Shade und Eidolon hatten Roag damals zehn Jahre lang gekannt, ehe sie Wraith gefunden hatten, zweiundzwanzig Jahre alt und dem Tode nah, aber nie zuvor hatten sie seine eiskalte Seite zu sehen bekommen. Danach war es immer noch schlimmer geworden, und Roags merkwürdige Eifersucht auf Wraith hatte einen Keil zwischen sie alle getrieben. Eidolon hatte jahrzehntelang den Friedensstifter gespielt, bis Roag dann vor zehn Jahren seine S’genesis durchgemacht hatte.
Roag hatte den Wandel nicht gut überstanden. Er war durchgedreht, hatte weder seine Kraft noch seine Triebe unter Kontrolle bekommen. Shade hatte recht; wenn Roag nicht an jenem Tag getötet worden wäre, wäre er entweder von anderen Dämonen umgebracht worden, oder aber der Seminus-Rat hätte ihn irgendwann zur Verantwortung gezogen. Und als nächstältester Bruder wäre es Eidolon zugefallen, die Strafe zu vollziehen.
»Scheiße.« Eidolon sank auf einen Stuhl und vergrub das Gesicht in seinen Händen. »Ich muss mit Tayla reden.«
»Hat sie zugestimmt, den Bund der Gefährten mit dir einzugehen?«
Eidolon blickte auf. »Sie will mich nicht.«
Shade verschränkte die Arme vor der Brust und stützte sich mit einer Hüfte am Geländer ab. »Dann ist sie ganz schön dumm.«
»Ich kann es ihr nicht verdenken. Sie glaubt, ich will sie nur, weil sie sozusagen mein letzter Ausweg ist.«
»Hat sie recht?«
Er fluchte. Frustration und
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