Den du nicht siehst
den Strand verziehen würden, wollten sie eine abgelegene Stelle suchen. Als sie über die Landzunge liefen, entdeckten sie in einiger Entfernung ein einsames Bootshaus.
»Dahin gehen wir«, sagte Petter.
»Du spinnst doch, das ist viel zu weit«, protestierte Carolina. »Und vielleicht ist da ja jemand.«
»Wir schauen nach!«
Er nahm wieder ihre Hand, und sie liefen über die Steine unten am Strand.
Sie stellten fest, dass das Haus leer war. Es schien schon lange nicht mehr benutzt worden zu sein.
»Perfekt. Also rein!« sagte Petter.
Nur das verrostete Hängeschloss könnte sie daran hindern.
»Hast du eine Haarnadel?«
»Wollen wir wirklich?«
»Aber sicher, hier haben wir schließlich unsere Ruhe.«
»Aber wenn jemand kommt?«
»Ach, in der Bude war doch schon seit Jahren niemand mehr«, sagte Petter, der hektisch versuchte, mit der Haarnadel das Schloss zu öffnen. Carolina stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch das einzige Fenster im Haus zu schauen. Ein dunkelblauer Vorhang hinderte sie daran. Das ist ja hervorragend, dachte sie begeistert. Petters Erregung war auf sie übergesprungen. Das hier war wirklich spannend. Sich in einem verlassenen alten Bootshaus zu lieben!
»Na, also.«
Ächzend ging die Tür auf. Sie schauten hinein. Das Haus hatte nur ein einziges Zimmer. Dort standen eine hölzerne Küchenbank, ein wackeliger Tisch und ein Stuhl. Die Wände waren schmutziggelb und kahl. Ein alter Kalender aus einem Supermarkt hing an einem Haken. Es roch feucht und muffig.
Glücklich breiteten sie Petters Kapuzenjacke auf dem Boden aus.
Sie hatten einige Stunden geschlafen, als Carolina erwachte und dringend musste. Zuerst wusste sie überhaupt nicht, wo sie sich befand. Dann stellte die Erinnerung sich wieder ein. Sicher, ja. Das Fenster. Das Bootshaus. Sie befreite sich aus Petters Umarmung und kam nur mit einer gewissen Mühe auf die Beine. Ihr war schlecht.
Sie stolperte aus dem Haus und ging zum Pinkeln in die Hocke. Danach wusch sie sich im kalten, klaren Meer.
Sie musste Petter wecken. Wie sollten sie überhaupt nach Hause kommen? Sie befanden sich hier doch irgendwo im Niemandsland. Fröstelnd kehrte sie ins Haus zurück. Petter schien unter einer alten Decke tief zu schlafen.
Auf dem Tisch lag ein rotes Wachstuch mit getrockneten Kaffeeflecken. Am Boden stand eine Thermoskanne. Obwohl das Haus ungenutzt wirkte, hatte Carolina doch das Gefühl, dass erst kürzlich jemand hier gewesen war.
Sie fror nach ihrem eiligen Bad. Die Decke, unter der Petter lag, sah dünn aus. Carolina hätte sich gern wieder hingelegt. Sie wollte versuchen, noch ein wenig zu schlafen, vielleicht würde ihre Übelkeit dann verschwinden. Sie hielt nach weiteren Decken Ausschau und sah, dass die Bank eine Klappe hatte. Sie hob sie hoch. Darunter fand sie ein Bündel Kleidungsstücke, oder eher mehrere Bündel.
Sie griff nach einem Pullover und hielt ihn vor sich hin. Er war zerfetzt und hatte große Flecken, die sie für Blut hielt. Vorsichtig sah sie die übrigen Bündel durch. Ein Kleid, ein T-Shirt, eine blutverschmierte Jeans, ein zerrissener BH, eine Hundeleine. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie schüttelte Petter wach.
»Da, schau mal in die Bank«, forderte sie ihn auf.
Petter erhob sich schlaftrunken und betrachtete die Kleidungsstücke.
»Was zum Teufel …?«
Er ließ die Klappe mit einem Knall zufallen, zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und verständigte die Polizei.
Montag, 25. Juni
Die Stockholmer Altstadt erinnerte durchaus an Visby. Das dachte Knutas jedes Mal, wenn er die Hauptstadt besuchte. Er genoss die Atmosphäre. Viele der schönen Gebäude mit ihren reich verzierten Fassaden und Portalen stammten aus dem 17. Jahrhundert, als Schweden eine Großmacht gewesen und Stockholm rasch gewachsen war. Die Häuser drängten sich aneinander und erinnerten daran, wie stark bevölkert die Stadt einmal war.
Die engen Gassen mit dem Kopfsteinpflaster schlängelten sich, den Armen eines Tintenfisches gleich, vom historischen Mittelpunkt der Stadt, dem Stortorget, fort. Es wimmelte in der Gegend von Restaurants, Cafés und kleinen Läden, die Antiquitäten, Kunsthandwerk und jede Menge Krimskrams verkauften.
Die Stockholmer Altstadt und Visby wiesen mehrere Gemeinsamkeiten auf. Während des Mittelalters hatten beide unter starkem deutschem Einfluss gestanden. Deutsche Kaufleute hatten Stockholm und Visby beherrscht und an Bauwerken und in Straßennamen ihre Spuren
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