Den letzten beissen die WerWölfe
Wir handeln.«
Der letzte Wolf verstand kein Wort.
***
21.20 Uhr
Vasudeva hatte langsam seinen Tee getrunken, dann begann er:
»Mit Gästen hätten wir zu dieser späten Stunde nicht gerechnet. Aber gerne erzähle ich die Geschichte dieses Hauses, in dem wir uns befinden. Es gibt eine Mär, dass die Grundmauern auf ein Jagdschlösschen des Chevalier Germain de Romance aus den Ardennen zurückgehen soll, der dieses für seine Geliebte, die Comtesse d’ Djalhé, gebaut hatte. Man schätzt, um 1800, also kurz nach der Französischen Revolution. Die Comtesse war eine Nymphomanin.«
Unter den weiß gekleideten Frauen wurde Protest laut, während Nusselein genüsslich grunzte.
Vasudeva beruhigte die Frauen:
»Kein Protest, das war nicht die Aussage eines Satyriasisten, ich habe nur aus alten Schriften zitiert. Lasst mich weiter erzählen. Der Chevalier erschien oft Monate, ja sogar Jahre, nicht hier im Hohen Venn und das Interesse der Comtesse verlagerte sich auf Holzfäller, Schäfer, Bauernburschen. Sie gebar viele Kinder, die aber alle schnell in Pflegefamilien, oft der diversen Väter, unterkamen. Noch heute soll es in Jalhay, Charneux, Herbiester, Solwaster, Verviers, aber auch in Eupen Nachfahren der einsamen Comtesse geben. Als diese älter wurde, bezog sie, wie soll ich das ausdrücken, in den Kreis ihrer Liebhaber auch ihre Jagdhunde ein.«
Einige der Frauen empörten sich: »Männerfantasien, Ammenmärchen!«, während Nusselein nur grunzte und sich dafür einen bösen Blick von Gottfried Zimmermann einfing.
Vasudeva ließ sich nicht mehr unterbrechen:
»Eines Abends nun, er war schon ewig nicht mehr im Venn gewesen, erschien plötzlich nach vielen Jahren der Chevalier. Den hatte es über Jahre nach Russland verschlagen, wo er es bis zum kaiserlich-russischen Hofrat im Range eines Generalmajors gebracht hatte. Unter Zar Alexander legte er allerdings, warum auch immer, alle seine Ämter nieder und kehrte in die Heimat zurück. Ob es nur ein Abstecher sein sollte, oder ob sich der Chevalier hier niederlassen wollte, weiß heute keiner mehr. Auf jeden Fall stand eine Niederkunft bei der Comtesse kurz bevor. Der Chevalier ließ eine Hebamme aus Jalhay rufen. In deren Familie erzählte man sich über Generationen, dass in dieser Nacht ein völlig behaartes Wesen geboren wurde, das größere Ähnlichkeit mit einem Wolfshund als mit einem menschlichen Wesen hatte.«
»Da haben wir ihn ja doch noch, unseren lang vermissten Werwolf«, raunte Nusselein dem Kommissar zu.
Vasudeva erzählte weiter:
»Noch in der gleichen Nacht reiste der Chevalier ab und überließ die Comtesse ihrem Schicksal. Diese wurde schon bald in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, wo sie starb. Über das Schicksal der Wolfsgeburt ist nichts bekannt. Mit einer Ausnahme: Bis zum heutigen Tage soll man in bestimmten Nächten hier oben Wolfsgeheul hören. Irgendwann, so um 1811-1812, hatten die Einwohner von Jalhay von den Gerüchten die Nase voll und fackelten das Jagdschlösschen unter Jubelrufen der Bevölkerung einfach ab. Zur gleichen Zeit wurde übrigens nur einige Kilometer weiter »Baraque Michel«, die Herberge im Hohen Venn erbaut, aber da gibt es bestimmt keinen Zusammenhang. Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts baute die berühmte Kunstfliegerin Liesel Bach, wie es dazu kam, weiß keiner mehr, hier ein Haus, wohl als Ferienhäuschen gedacht. Sie soll nur wenige Tage hier gewesen sein, das Haus aber oft Freunden zur Verfügung gestellt haben. Diese, so erzählt man sich, berichteten von tierischem Geheul in der Nacht und zeigten sogar Fotos, auf denen schemenhafte Wesen im Haus zu erkennen waren. Das Ende des Zweiten Weltkrieges bereitete allem ein Ende. Ob Liesel Bach enteignet wurde oder das Haus verkaufte, weiß keiner in Jalhay. Fest steht nur, dass diese ehemalige Villa heute wohl im Besitz der Gemeindeverwaltung von Jalhay ist. Meistens wurde sie in den letzten Jahren von Waldarbeitern als Lager und Hütte genutzt. Als es hier die Siedlung Plénesses gab, nannte man die Villa spöttisch ›Hotel de Ville‹. Aber auch die Bauern von Plénesses wollen das Geheul gehört haben. Daher glauben wir, dass der Geist der Wolfsgeburt hier immer noch zugegen ist und suchen den Kontakt.«
Karl Jerusalem trank seinen Tee aus, stellte das Glas ab und schlug sich auf die Oberschenkel:
»Herzlichen Dank für diese nette Geschichte. Ich gehe mal davon aus, dass Sie tatsächlich mit dem Segen der Gemeindeverwaltung
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