Den schnapp ich mir Roman
schlimm finde ich das gar nicht. Eigentlich bin ich sehr erleichtert, dass ich endlich die Entscheidung getroffen habe.«
Tessa wusste genau, wie der anderen zumute war. Es machte Angst, etwas aufzugeben, was man lange geliebt hat. Aber nun war es Zeit für eine Veränderung.
Zum ersten Mal heute wirkte Clemmie ruhiger. Sie trank ihren Tee in kleinen Schlucken. Von klein auf hatte sie immer nur gearbeitet, und der Gedanke, dass in den nächsten Monaten kein Termin in ihrem Kalender stand, dass keine Agentin ihr sagen würde, was sie tun sollte, war für sie eine völlig neue Erfahrung. Aber eine Erfahrung, mit der sie sehr leicht umgehen konnte. Wenn es nicht auch um Rufus ginge … »Ich muss gehen, ich muss mich um meine Hochzeit kümmern. Falls der Bräutigam überhaupt mitmacht«, fügte sie hinzu. Dabei zitterte ihre Stimme. Sie schüttelte den Schirm aus und machte sich bereit zu gehen.
Tessa nahm sie in den Arm. Irgendwie war sie auf Clemmie wie auch auf sich selbst stolz. Dann schloss sie die Tür hinter ihr und holte das Notizbuch mit den Ideen für ihren Roman. Wenn Clemmie ihre Karriere ändern konnte, dann konnte sie das auch. Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen aufs Sofa und begann zu schreiben.
Milly stapfte auf dem Heimweg von der Bibliothek durch Berge von rotgoldenem Herbstlaub. India hatte versprochen, sie gegen Mittag dort zu treffen, aber drei Stunden später war sie immer noch nicht aufgetaucht.
Milly wurde die Situation langsam leid. Jeden Morgen schickte sie India eine SMS, um sich auf einen Schwatz zu verabreden, zusammen die Hausaufgaben zu machen oder einfach nur um Musik zu hören – was Mädchen nach der
Schule eben so tun. Nach einer Weile schlug India scheinbar zögernd einen Zeitpunkt vor. Und dann sagte sie unweigerlich und mit verschiedenen windigen Ausreden ab, die einfach nicht zu stimmen schienen. Meistens nannte sie als Vorwand, mit Alicia an einem Umweltprojekt zu arbeiten.
Milly fegte mit einem besonders kräftigen Tritt einen großen Berg Blätter auseinander. Dafür handelte sie sich einen strengen Blick von Mrs. North ein, die wie ein Brathühnchen in einen durchsichtigen Regenmantel eingezwängt war. Dazu trug sie eine Art altmodische Duschkappe.
»’tschuldigung«, murmelte Milly verdrossen und ohne jegliche Überzeugung. Sie litt unter PMS. Dann hatte sie immer einen aufgeblähten Bauch, rote Pickel am Kinn und sehr widerspenstige fettige Haare. Gott sei Dank traf sie sich heute nicht mit Freddie. Jetzt stopfte sie missmutig die Hände in die Taschen ihres modischen Top-Shop -Mantels.
Indias seltsames Benehmen und Freddies Nähe bildeten zur Zeit die beiden Kontrastpunkte in Millys Leben. Von diesen extremen Stimmungsumschwüngen war sie restlos erschöpft. Es war wie auf einer seelischen Achterbahn, die in einem Moment aufregend nach oben schoss, um im nächsten unaufhaltsam nach unten zu rasen. Einerseits verbrachte sie sehr viel Zeit mit Freddie, weil sie ihm bei den Schulaufgaben half. Sie verstanden sich sehr gut, aber Freddie betrachtete sie immer noch wie eine kleine Schwester. Und India war kaum noch ihre beste Freundin. Daher konnte sie mit beiden kaum reden. Claudette hatte sich zu einer ausgesprochenen Klette entwickelt und konnte sich kaum eine Minute von Will trennen, und Tessa verbrachte jede drehfreie freie Minute mit ihrem Roman.
Milly seufzte dramatisch. Das Zusammensein mit Freddie lenkte sie sehr ab. Er brauchte sie bloß mit seinen blaubeerfarbenen Augen anzusehen oder sich mit den langen, feingliedrigen Fingern die Haare aus der Stirn zu streichen, und sie war völlig hingerissen. Aber sie hatten auch viel Spaß zusammen – oft lachte Milly hemmungslos in seiner Gegenwart und vergaß völlig, dass sie ja eigentlich sehr erwachsen auf ihn wirken wollte. Man musste Freddie loben, denn er hatte sich wirklich in die Aufgaben gekniet und schlug manchmal sogar vor, ein paar Stunden dranzuhängen. Milly wusste aber, dass er sich ein für alle Mal von seinem Vater lösen wollte.
India hingegen zeigte ihr immer mehr die kalte Schulter, so dass Milly befürchtete, bald Frostbeulen davon zu bekommen. India tat sehr geheimnisvoll, und ihr Benehmen wurde im Laufe der Wochen immer bizarrer. Die Lehrer verloren allmählich die Geduld mit ihr, weil sie ständig auf ihr Handy starrte, einfach mitten im Unterricht verschwand und an jeder Krankheit zu leiden schien, die im Buche steht. Sie brachte die fadenscheinigsten Entschuldigungen vor, als
Weitere Kostenlose Bücher