Den Tod im Blick- Numbers 1
anbrüllen wollte, dann überlegte sie es sich anders, stieß nur einen Seufzer aus und nickte.
»Okay, wir bereden das morgen früh. Aber wir bereden es.« Eine Drohung, kein Versprechen. »Ich ruf jetzt lieber die Polizei an – ich hab dich nämlich als vermisst gemeldet. Hier, nimm das mit.« Sie reichte mir ihren Becher, der noch drei viertel voll war.
Ich ging nach oben, stellte den Becher auf den Tisch neben meinem Bett und kroch unter die Decke, ohne mich vorher auszuziehen. Ich richtete die Kissen auf und griff nach meinem Tee. Erst als die warme, süße Flüssigkeit meinen Kreislauf erreichte, merkte ich, wie kalt und leer ich war.
Ich war hundemüde und konnte meine Augen trotzdem nicht schließen. Deshalb saß ich die ganze Nacht da, die Decke hochgezogen bis zum Hals, bis das Licht durch die Vorhänge sickerte und ich irgendwo zwischen Schlafen und Wachsein den Beginn eines neuen trostlosen Tages wahrnahm.
KAPITEL 05
In McNultys Unterricht wurde immer noch über die ganze Sache getuschelt. Ich musste leider allein wieder hin, da Spinne für drei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen war. Wie sich später herausstellen sollte, kehrte er nie mehr in die Schule zurück. Ich nehme an, wenn ihm das klar gewesen wär, hätte er mehr angestellt, als Jordan bloß ein blaues Auge und eine aufgeplatzte Lippe zu verpassen. Es kursierten Gerüchte, er sei von der Polizei verhört worden, alles Mögliche, auch, was Jordan mit ihm machen würde, wenn sie beide zurück wären. Aber fürs Erste gefielen sie sich darin, mir in den Arsch zu treten.
»Was willst du jetzt tun, wo dein Liebster weg ist? Keiner mehr da, der deine Ehre verteidigt.«
»Jem und Spinne K-Ü-S-S-E-N sich auf einem Baum.«
Klar sagte ich ihnen, sie sollten verschwinden, aber es brachte nichts. Sie waren wie ein Rudel Hunde vor einem Knochen.
Ich hielt ein paar Tage durch, danach ging es nicht mehr. Ich war eigentlich wie immer zur Schule unterwegs, aber dann nahm ich die Abkürzung an der Rückseite der Geschäfte vorbei, um hinüber zum Park oder runter zum Kanal zu laufen und allein zu sein. Du brauchst kein Mitleid mit mir zu haben, ich war so was gewohnt. War überall dasselbe, egal wo ich gelebt hatte, egal wo ich zur Schule gegangen war. Ein bestimmtes Maß kannst du verkraften, aber irgendwann kommt der Punkt, da hältst du es nicht mehr aus und willst nur noch weg. Das geht vielen so, aber mir besonders. Die Schule stopft dich mit so vielen andern Leuten zusammen, als ob wir Hennen in einer Legebatterie wären, und du weißt ja, ich ertrag andere Leute nicht so gut. Ist alles viel einfacher, wenn ich für mich bin.
Die Tage war es mir auch ganz gut gelungen, mich von Spinne fernzuhalten. Ich sah ihn ein paarmal, passte aber auf, dass er mich nicht entdeckte. Die ganze Geschichte in der Schule war ziemlich peinlich gewesen. Was hatte er sich bloß dabei gedacht, so auf jemanden loszugehen und uns derart vorzuführen? Machte mich ziemlich traurig, wenn ich drüber nachdachte. Für ein paar Wochen hatte ich so was wie einen Freund gehabt. Aber so wie alles andere war auch das zu schwierig geworden. Es musste aufhören. Wenn mir der Jordan-Zwischenfall eines gezeigt hatte, dann das, worüber ich mir eigentlich längst im Klaren war: Spinne bedeutete Probleme, und zwar Probleme der Art, die ich beim besten Willen nicht brauchen konnte. Trotzdem vermisste ich ihn aber irgendwie.
Und, was meinst du? Ihm auf Dauer aus dem Weg zu gehen war sowieso nicht möglich. Wie ein unangenehmer Geruch, der dir überallhin folgt, wie ein Stück Kaugummi, das dir am Schuh klebt, tauchte Spinne immer wieder auf. Vielleicht könnte man sagen, es gelang mir nicht, ihn auf Abstand zu halten. Genauso gut könnte man aber auch sagen, wir waren dafür bestimmt, zusammen zu sein.
Egal, an dem Mittwoch war ich jedenfalls einen Moment lang abgelenkt. Ich beobachtete nämlich jemanden, einen alten Penner. Fünf Minuten vorher war er plötzlich aufgekreuzt und hatte mich um Geld angehauen. Danach war ich ihm bis in die High Street gefolgt. Jetzt stocherte er auf der andern Straßenseite in einem Abfalleimer rum. Ich lehnte mich an eine Mauer und sah zu, als mir plötzlich ein vertrauter herber Geruch in die Nase stieg und jemand in mein Ohr flüsterte: »Was machste?«
Meine Aufmerksamkeit war total auf den Alten gerichtet, deshalb schaute ich mich nicht um, sondern antwortete nur, als ob wir uns schon vor fünf Minuten gesehen hätten: »Was ist heute für
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