Den Tod im Blick- Numbers 1
Herzinfarkt. Mich quälte der Gedanke, den ich versuchte zu unterdrücken und der doch immer wieder hochkam: Vielleicht war ja in Wahrheit heute gar nicht sein letzter Tag gewesen. Vielleicht hatte erst die Begegnung mit mir dazu geführt, dass es sein letzter Tag wurde.
Ehe ich es richtig kapierte, waren wir schon bei Spinne. Ich blieb am Tor stehen. »Ich glaub, ich geh besser nach Hause zu Karen.« Ich brauchte Platz, um das Ganze in meinen Kopf zu kriegen.
»Nein, Mann, komm ’n bisschen mit rein. Nach so was wie eben darfste doch nicht allein sein.«
Ich hatte einen andern Grund, zu zögern: die haselnussbraunen Augen, die von meinen Geheimnissen wussten.
Wie erwartet saß Val auf ihrem Hocker in der Küche. Spinne beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie.
»Habt aber früh Schluss«, sagte sie und schaute rüber zur Küchenuhr.
»Was ist?« Halb eins. »Du weißt doch, dass sie mich ausgeschlossen haben, Oma. Was ist los mit dir – spinnst du jetzt? Und Jem macht … Heimstudium.« Er grinste und Val lächelte mit. Sie wusste, was lief.
»Dann setzt ihr euch jetzt also hin und lest ein paar Bücher?« Ihr Blick wechselte zu mir – ganz direkt, alles sehend, und ich konnte mich nirgends verkriechen.
»Ehrlich gesagt brauchen wir mal ’n Tacken Ruhe. Haben grad mitgekriegt, wie so ’n Alter übern Haufen gefahren wurde.«
Sie legte die Zigarette ab. »Ist doch wohl nichts passiert, oder?«
»Doch, der ist tot. Ist direkt an der Unfallstelle gestorben, auf der Straße, die am Park vorbeiführt, weißte? Haben’s genau gesehen.« In seiner Stimme lag ein leichtes Zittern. War offenbar doch nicht so ein harter Junge.
Val hievte sich von ihrem Platz und schlurfte zum Kessel hinüber. »Echt? Na los, setzt euch. Ich mach euch beiden einen Tee. Schönen süßen Tee, das ist es, was ihr jetzt braucht. Verfluchter Verkehr. Kann man jetzt nicht mal mehr die verdammte Straße überqueren?«
Sie werkelte herum, um uns eine Kanne Tee zu machen, während wir ins Wohnzimmer gingen. Schließlich kam sie mit drei Bechern und einer Packung Keksen auf einem Tablett nach. Das Tablett stellte sie auf dem Hocker in der Mitte ab, sie selber ließ sich in einem Sessel nieder und atmete schwer, als sie sich nach hinten lehnte. »Nichts für meinen Rücken, diese Sessel. Na kommt, trinkt erst mal.«
Ich nippte an dem heißen Tee, während Spinne und seine Oma dasaßen, ihre Kekse eintunkten und halb durchweichte, halb krümelige Bissen runterschlürften.
»Ihr seid also da entlanggelaufen und habt alles gesehen?«
Ich fing Spinnes Blick auf. Keiner von uns wollte, dass sie erfuhr, wie der Alte seine letzten Minuten verbracht hatte. In Angst, dass wir ihn beklauen würden.
»Ja, genau.«
»Erschreckend, nicht? Man weiß nie, was einen hinter der nächsten Ecke erwartet.«
Spinne verschwand aufs Klo und ließ mich mit ihr allein. Sie rückte in ihrem Sessel vor. »Ist alles in Ordnung mit dir, Jem? Erschüttert einen ganz schön, so was, nicht?«
Ich nickte. »Ja.«
»Hast du schon mal eine Leiche gesehen? Oder war es das erste Mal?« Hoppla, lange rumfackeln war echt nicht Vals Ding.
Ich hätte ihr einfach erklären sollen, dass ich nicht drüber reden will. Aber wie ich schon sagte, sie hatte irgendwas an sich – Widerstand war zwecklos.
»Meine Ma«, sagte ich leise. Ihr Mund formte ein O und sie nickte, als ob sie es schon die ganze Zeit gewusst hätte. Ich mochte das – ich mochte die Tatsache, dass sie nicht verlegen wurde oder anfing loszusprudeln, wie schrecklich das sei. Sie nickte bloß. Ich redete weiter. »Ich hab sie gefunden. Sie starb im Bett. Überdosis. Sie wollte das nicht. Ich mein, glaub ich jedenfalls. War einfach Pech.«
Sie nickte wieder. »Pech. Wie bei meinem Cyril. Fiel mit vierundvierzig tot um. Herzinfarkt, Gott hab ihn selig. Niemand ahnte, dass was mit ihm nicht stimmte. Keine Vorwarnung, nichts. Da drüben ist er, schau, auf dem Kaminsims.«
Ich sah hinüber zu der hölzernen Ablage über dem Kamin. Zwischen all den Porzellanhunden und Kerzenhaltern aus Messing stand ein gerahmtes Foto, eines dieser superschicken, die im Studio gemacht werden. Schwarz-weiß, nur Kopf und Schultern. Ein gut aussehender Mann, mit einem leichten Funkeln in den Augen. Bloß ein Stück Papier in einem Rahmen, aber es hatte eine Ausstrahlung, die dich berührte und in dir den Wunsch erzeugte, zurückzulächeln.
»Hol ihn mal rüber, mach schon.« Widerwillig und verlegen ging ich zum
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