Den Tod im Blick- Numbers 1
musste plötzlich an Val denken, wie sie in der Küche auf ihrem Hocker gesessen hatte, den Aschenbecher voll Zigarettenkippen, mit diesem Blick in den Augen, als wir wegfuhren.
»Wenn irgendwo jemand auf eine Nachricht von euch wartet, dann ruft lieber an. Sagt Bescheid, dass ihr am Leben seid. Glaubt mir, ihr beiden. Ich weiß, wie das ist, dazusitzen und das Telefon anzustarren in der Hoffnung, dass es endlich klingelt. Es bricht einem wirklich das Herz.« Sie schaute jetzt weder Spinne noch mich an, ihr Blick fiel auf eines der Bilder an der Wand, doch ich wusste, dass sie es nicht ansah. Sie war ganz woanders, an einem schmerzlichen Ort.
Ich schwieg und tat so, als ob ich die Zeitung lesen würde, die auf dem Nachbartisch lag. Ich wollte nicht die traurigen Geschichten anderer Leute hören. Spinne war viel zu beschäftigt, mit dem Röstbrot seinen Teller sauber zu wischen, um es sich dann in seinen großen Mund zu schieben, als dass er nachfragen würde, doch Rita nahm unser Schweigen als Aufforderung zum Weiterreden.
»Ist mir selbst so passiert, wisst ihr? Mein Shaunie. Wir haben uns manchmal gestritten – jeder streitet sich doch mal, oder? Dann war er jedes Mal ein paar Stunden weg und kam nach Hause, wenn er sich wieder beruhigt hatte. Ich hab nie gedacht, dass er irgendwann mal für immer gehen würde.« Ihr Gesicht glänzte feucht – von der Hitze in der Küche oder der Anstrengung, uns von ihrem Sohn zu erzählen. Sie wischte sich die Stirn mit dem Schürzenrand ab. »Aber genau das hat er gemacht. Eines Tages hatten wir einen Streit, ich weiß nicht mal mehr, worum es ging, und weg war er. Ich machte mir keine großen Sorgen, dachte, er würde schon wieder zurückkommen. Ich bereitete ihm sein Abendbrot und stellte es in den Ofen, damit es warm blieb. Aber da stand es am nächsten Morgen immer noch, eingetrocknet und festgebacken am Teller. Shepherd’s Pie mit Gemüse. Das hatte ich für ihn gemacht. Weil er das immer so gern gegessen hat. Ich hab dann die Polizei angerufen. Die hat das nicht besonders interessiert. Siebzehn, versteht ihr. Mit siebzehn kann jeder tun, was er will. Ich rief seine Freunde an und suchte alles nach ihm ab. Nichts. Er war ganz einfach verschwunden. Hab ihn nie wiedergesehen. Weiß nicht mal, ob er noch lebt oder tot ist.« Ihre Stimme zitterte und sie hörte auf zu reden, saß bloß da und atmete tief ein und aus.
Verlegen hielt ich den Blick auf den Tisch, auf die Zeitung gerichtet und zum ersten Mal nahm ich die Überschrift wahr. BOMBENATTENTAT IN LONDON – WARUM LIEFEN SIE WEG? Und darunter das körnige Überwachungsfoto einer Warteschlange in einem Geschäft. Die Kamera musste dicht unter der Decke angebracht sein, denn man sah die Menschen von oben, niemandem ins Gesicht, bis auf einen, der genau in die Kamera schaute. Das war natürlich ich. An der Tankstelle. Auf der Titelseite der Zeitung.
Spinne hatte das letzte Stück Brot auf seinem Teller abgelegt.
»Das ist ja schrecklich«, sagte er. »Tut mir echt leid.«
Rita nickte, sein Mitleid würdigend.
»Hier.« Er hielt ihr ein schmuddeliges Taschentuch hin.
»Danke. Hab selbst eins.« Sie fasste sich in die Schürzentasche, zog ein großes weißes Männertaschentuch raus und putzte sich lautstark die Nase.
»So was verändert dein Leben«, sagte sie leise. »Du magst gar nicht mehr aus dem Haus gehen, denn das Telefon könnte ja klingeln. Du schläfst nicht mehr richtig, weil du immer auf den Schlüssel im Schloss horchst. Manchmal glaubst du, du wirst verrückt, wenn du jemanden siehst, der von hinten genauso aussieht, oder wenn du hinter dir jemanden hörst, der so lacht, wie er gelacht hat, und dann drehst du dich um und er ist es doch nicht.« Schweiß perlte wieder auf ihrer Stirn und sie hob die Schürze und für Sekunden bedeckte sie ihr Gesicht, um ihn wegzuwischen. »Wenn ihr also irgendwo jemanden habt, dem es so geht wie mir, ruft ihn an.«
Ich spürte, wie auch bei mir der Schweiß unter den Armen und auf der Stirn kribbelte, doch aus ganz anderen Gründen. Ihre Worte streiften mich bloß, während ich den Artikel las: Dies sind die beiden ersten Fotos der zwei Jugendlichen, die gesehen wurden, als sie wenige Minuten vor dem Terroranschlag am London Eye wegliefen. Die Polizei betont, dass die beiden derzeit als Hauptzeugen gesucht werden, die möglicherweise entscheidende Hinweise zu dem terroristischen Anschlag geben können. Sie werden dringend aufgefordert, sich bei der Polizei zu
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