Den Tod im Blick- Numbers 1
nicht schwarz war, sondern blau.
Es war blau und übersät von Tattoos.
Ich wirbelte herum.
»Lauf, Spinne! Lauf, lauf, lauf!«
Er hörte die Panik in meiner Stimme, fragte nicht lange nach, sondern drehte sich um und wir rannten. Ich hörte Tattoogesicht hinter mir, die schweren Schritte auf dem knirschenden Kies und den rasselnden Atem, den er in die Lunge sog und wieder ausstieß. Der Weg war so eng, dass unsere Tüten an der Mauer und am Geländer entlangschrammten.
Spinne wurde für einen Moment langsamer, ich holte zu ihm auf. »Lass die Tüten fallen, Jem. Lass sie los.«
Ich ließ fallen, was ich hatte, und er ließ mich an sich vorbei, dann warf er die Tüten, die er trug, zurück durch den Tunnel, genau auf Tattoogesicht zu. Selbst im Laufen hörte ich den Kerl ächzen, als er Plastik und Dosen unter den Füßen zertrat. Wir waren inzwischen im Freien und jagten den Treidelpfad zurück, den wir gerade vor fünf Minuten gekommen waren. Wir hatten ihn mit den Tüten ein bisschen gebremst, aber nicht viel. Er war ein riesiges Mistvieh, doch er bewegte sich schnell. Ich wollte mich nicht umschauen, aber ich konnte nicht anders, und als ich über die Schulter blickte, sah ich ihn wie einen Rugbyspieler auf uns zustürmen.
»Da!« Spinne packte meinen Arm und zog mich nach links. Wir liefen einen steilen Abhang runter und stießen unten auf einen andern Pfad. Er lief auf eine Eisenbahnbrücke zu: düster schwarzes genietetes Eisen, mit Graffiti übersät. »Komm schon!«
Wir polterten die Stufen hoch. Gerade als wir über die Brücke jagten, fuhr unter uns ein Zug vorbei; musste ein Fernzug sein, denn er raste vorüber und der sirrende Klang von Hochgeschwindigkeitsmetall rauschte in meinen Ohren. Es übertönte den Lärm von Tattoogesichts Schritten, doch als wir auf der andern Seite die Stufen wieder nach unten liefen, spürte ich das Vibrieren der Brücke, als er sie entlanggedonnert kam. Er war direkt hinter uns.
Die Brücke mündete in eine Straße mit Reihenhäusern auf der einen und Bahngleisen auf der andern Seite. Häuser bedeuteten Menschen – sicher würde Tattoogesicht uns nicht vor Zeugen umbringen. Oder? Ich fing an zu schreien, brüllte im Laufen: »Hilfe! Helft uns! Ruft die Polizei! Helft uns!«
Weit und breit keine Reaktion. Entweder waren die Häuser leer oder die Menschen, die uns hörten, sanken einfach noch tiefer in ihre Sessel und stellten den Fernseher ein bisschen lauter.
Spinne schoss herum. »Was machst du? Halt die Klappe! Wir wollen doch keine Polizei. Wir müssen nur sehen, dass wir hier schnellstens verschwinden. Mach schon!«
»Der bringt uns um, Spinne! Wir brauchen Hilfe.« Rührte sich irgendwo eine Gardine? Beobachtete uns jemand?
»Ich bring euch nicht um!«, tönte Tattoogesichts Stimme die Straße entlang. »Ich will mich nur nett mit euch unterhalten, Leute. Das ist alles.«
Ich schaute über die Schulter zurück. Der Typ rannte nicht mehr. Er stand in der Mitte der Straße, nach vorn gebeugt, zu uns aufschauend, die Hände auf die Schenkel gestützt, keuchend und prustend. Er versuchte zu Atem zu kommen, doch die ganze Zeit hielt er die Augen auf uns gerichtet. Natürlich sah ich seine Zahl. Ich kannte sie schon von der Party. 11122010. Vier Tage vor Spinne. Das gleiche Datum wie auf der Zeitung, die ich vorhin hatte mitgehen lassen. Das war heute.
Es war nicht bloß Adrenalin, das plötzlich in mir hochstieg – dieser Kitzel, dieses Bewusstsein schoss mir durch die Adern wie ein Kick, wie die stärkste Droge der Welt. Was bedeutete das?
Was immer als Nächstes passieren würde, Spinne kam lebend davon und Tattoogesicht nicht. Natürlich wusste ich nichts über mich. Vielleicht war ja Spinne der Einzige, der überlebte …
Spinne und ich waren auch stehen geblieben. Wir sahen ihm auf der Straße entgegen, dann sahen wir uns an, unsicher, was wir tun sollten.
»Was willst du?«, rief Spinne ihm zu.
»Du weißt, was ich will. Du hast was, das dir nicht gehört. Etwas, das ein Freund von mir wiederhaben will.« Das Geld. »Lass uns einfach wie Erwachsene drüber reden und uns hier nicht zum Affen machen.« Er kam jetzt langsam auf uns zu. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen, als er näher kam. Dann öffnete zu seiner Rechten jemand die Tür. Ein Kerl mittleren Alters hielt einen großen Hund am Halsband.
»Was ist hier los?«, brüllte er.
Tattoogesicht blieb stehen, drehte sich zu ihm um und hielt die Hände hoch. »Nichts. Kleine
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