Den Tod im Blick- Numbers 1
melden.
Rita hatte aufgehört zu reden und strich mit ihren feuchten Händen immer wieder über die Schürze. Eine Weile sagte niemand was.
»Das Problem ist«, sagte Spinne, »dass man Anrufe orten kann, nicht?«
»Und ihr wollt nicht, dass man euch findet.« Ihr Blick sprang zwischen uns hin und her, ohne dass sie uns verurteilte, und ich fand, ihr Shaun musste ein Volltrottel gewesen sein, so eine Mutter zu verlassen.
Ich überprüfte ihre Zahl. Noch fünfzehn, sechzehn Jahre zu leben. Würde sie ihren Sohn irgendwann wiedersehen oder waren es fünfzehn Jahre versäumter Geburtstage und einsamer Weihnachtsfeste? Ich versuchte nicht drüber nachzudenken – nicht mein Problem.
»Soll ich euch was sagen? Wenn ihr mir eine Nummer dalasst, kann ich ja für euch anrufen, sobald ihr weg seid«, erklärte sie. »Ich kann auch erst ein paar Stunden später anrufen, morgen, wenn ihr wollt, nur damit die andere Person weiß, dass ich euch gesehen habe und es euch gut geht.«
Spinne nickte. »Ja, ja, das wär cool. Sie geben uns Zeit, bis wir auf und davon sind.«
»Ich hol mal eben Papier und Bleistift.« Rita kam mit Mühe auf die Beine.
Ich beugte mich über den Resopaltisch. »Bist du verrückt?«, zischte ich.
»Was ist?«
»Du willst ihr die Nummer von deiner Oma geben?«
»Wie sie gesagt hat, sie kann morgen anrufen, wenn wir längst weg sind. Ist doch genial.«
Ich sagte nichts, sondern schob ihm nur die Zeitung über den Tisch.
»Was …?«, wollte er gerade anfangen, dann sah er das Foto. »O Scheiße.«
Wir schauten beide zum Tresen. Rita stand mit dem Rücken zu uns und tastete unter einem Haufen Papier nach einem Stift. Ich steckte die Zeitung in meinen Mantel, und ohne ein Wort zu sagen, schnappten wir uns so leise wie möglich unsere Tüten, erhoben uns von den Stühlen und versuchten sie nicht auf dem Boden scharren zu lassen.
Als ich die Tür erreicht hatte, schaute ich mich noch mal um. Spinne stand am Tisch. Was hatte er vor? Er griff in seine Tasche und zog ein paar Fünfpfundscheine aus dem Umschlag. Verdammt noch mal , wollte ich schreien, dafür haben wir keine Zeit! Ich drückte die Klinke und zog an der Tür in der Hoffnung, dass keine Glocke da war, die uns verraten würde. Alles ging gut, ich schlüpfte nach draußen, Spinne war jetzt dicht hinter mir.
»Nicht rennen, Jem. Bloß gehen. Bleib cool.«
Wir waren erst wenige Meter entfernt, als wir Ritas Stimme durch die offene Tür hörten. »Was ist …? Kommt zurück!« Wir gingen schneller.
»Schau dich nicht um, Jem. Geh einfach weiter.«
Ich brauchte mich gar nicht umzudrehen. Vor meinem inneren Auge sah ich sie eine Weile in der Tür stehen und uns hinterherschauen, wie wir verschwanden, und dann, dass sie sich umwandte, die Geldscheine nahm und auf einen Stuhl sank. Schwer ein- und ausatmete und an uns dachte, an Shaun … bis sie merkte, dass die Zeitung weg war, eins und eins zusammenzählte und nach dem Telefonhörer griff.
KAPITEL 21
Die High Street war voller Polizeispitzel. Jeder Passant hatte zwei Augen und ein Handy. Als wir auf dem Land waren, hatte ich angefangen zu glauben, dass wir ganz einfach paranoid wurden, dass sich alles bloß in unserem Kopf abspielte, dieser Drang, wegzulaufen und uns zu verstecken. Aber mein Foto auf der Titelseite der Zeitung sagte mir etwas anderes. Es war wahr. Alle waren unterwegs, um uns zu schnappen. Als wir die Straße entlanggingen, schien es mir, als ob es jetzt bald so weit wäre. Selbst in diesem verschlafenen kleinen Marktstädtchen mitten im Niemandsland liefen Hunderte Menschen rum: Menschen, die Nachrichten sahen, ins Internet gingen und Zeitung lasen.
Und noch was machte mir Sorgen. Sosehr ich versuchte, nicht in die Augen der Menschen zu sehen, es gelang mir nicht, sie zu meiden, und da waren sie wieder: die Zahlen der Leute. Die mir etwas über fremde Menschen erzählten, mir ihr Todesdatum nannten. Ich wär am liebsten mit geschlossenen Augen rumgelaufen, um die Zahlen auszulöschen. Ich wollte nicht dran erinnert werden, dass alle um mich rum sterben mussten. Der Grund dafür lief neben mir und hielt meine Hand. Spinne. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich jemanden, den ich festhalten wollte. Das Datum auf der Zeitung – 11. Dezember – war ein Schlag ins Gesicht. Nur noch vier Tage.
»Pass auf«, sagte er, »wir kaufen lieber schnell ’n paar Vorräte und dann suchen wir uns was, wo wir abtauchen können. Wir fallen hier zu sehr auf.«
Er machte
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