Den Tod im Blick- Numbers 1
versuchte ihn nicht anzuschauen, aber ich hatte seine Zahl schon gesehen, als er auf mich zugewankt kam. Er hatte noch vier Wochen.
Ich sah es an seinem Gesicht, es war klar, was er von mir wollte. Ein Datum, die Wahrheit. Und ich wusste, ich konnte sie ihm nicht sagen, deshalb wandte ich mich schnell ab, bevor er den Mund öffnen konnte, und ging zurück in die Sakristei. Als ich die Tür erreichte, hörte ich eine Stimme.
»Kommen Sie, wir helfen Ihnen, Sir. Setzen Sie sich hier hin. Möchten Sie ein Glas Wasser?« Simon und einer der Kirchendiener waren zu ihm gelaufen und überredeten den Mann, sich auf eine der Kirchenbänke zu setzen.
Erleichtert schlug ich die Tür hinter mir zu.
KAPITEL 35
Ich glaub, die Kirchendiener oder vielleicht auch die Polizei hielten an dem Tag alle andern fern. Die Menschen brachten mir etwas zu essen und versuchten mit mir zu reden. Ich erlaubte ihnen, mir die Schuhe auszuziehen und eine Decke überzulegen, aber ansonsten lag ich den ganzen Nachmittag zusammengekauert da, umgeben von einem stummen Kreis. Schließlich, lange nachdem es dunkel geworden war, verließen sie mich. Alle außer Anne, die freiwillig die Nacht über bei mir blieb.
Gleich nachdem die Glocken der Kathedrale acht Uhr geschlagen hatten, hörte ich sie herumwerkeln. Ich drehte mich auf der Matratze um.
»Ich habe ein bisschen Suppe in einer Thermoskanne mitgebracht. Möchtest du etwas davon?«
Mir war schwindelig, ich fühlte mich orientierungslos. Langsam setzte ich mich auf.
»Weiß nicht.«
»Ich schenke mir auch etwas ein – schau mal, ob du ein bisschen was davon magst.«
Sie saß mit ihrer Schüssel am Tisch. Ich stand vorsichtig auf und setzte mich zu ihr. Hunger hatte ich eigentlich nicht, aber ich probierte zumindest ein bisschen von der Suppe. Sie war köstlich, selbst gemacht. Ich aß sie Löffel für Löffel auf.
»Schön, dich essen zu sehen«, sagte sie, als ich fertig war. »Du trägst eine große Last auf deinen Schultern, nicht wahr? Es muss schlimm für dich sein.«
Ich nickte. »Ich wünschte, dass es anders wär, dass ich nicht die Zahlen sehen würde.«
»Das muss hart sein. Aber vielleicht solltest du es als Gabe sehen.«
Ich schnaubte. »Sie meinen, es ist ein Geschenk? Ich muss was verdammt Schlimmes getan haben, wenn ich so ein Geschenk verdiene.«
»Gott mag sie dir verliehen haben. Vielleicht ist sie weniger ein Geschenk für dich als für alle anderen.« Sie war jetzt gedanklich nicht mehr bei mir.
»Versteh ich nicht.«
»Du bist eine Zeugin, Jem. Du bezeugst die Tatsache, dass wir alle sterblich sind. Dass unsere Tage gezählt sind, dass uns wenig Zeit bleibt.«
»Aber das weiß doch sowieso jeder.«
»Wir wissen es, aber wir schieben es lieber beiseite – es ist so schwer, damit zurechtzukommen. Das war es, was du mir gestern deutlich gemacht hast. Wir ziehen es vor, den Tod zu vergessen.«
»Ja, das sagen Sie. Aber ich kann nirgendwo hingehen, niemanden ansehen, nichts tun, ohne ständig dran erinnert zu werden. Es macht mich wahnsinnig. Ich halt das nicht mehr aus.«
»Gott liebt dich, Jem. Er wird dir die Kraft schenken.«
Das war zu viel für mich – ich mochte in den letzten paar Wochen sanfter geworden sein, doch die alte Jem lauerte immer noch dicht unter der Oberfläche.
»Was wollen Sie eigentlich? Wenn Gott mich so liebt, wieso hat er dann meine Ma an einer Überdosis sterben lassen, wieso hat er mich immer wieder Leuten überlassen, denen ich total egal war, wieso hat er zugelassen, dass ich mir den Knöchel verstauche oder mit der Hand in Vogelscheiße fasse oder dass mir ein riesiger Pickel am Kinn wächst?«
»Er hat dir das Leben geschenkt.«
Darauf ließ sich nichts erwidern.
Ich konnte mich gerade noch zurückhalten, ihr zu antworten, dass dafür meine Ma und einer ihrer Freier zuständig waren, der ihr zwanzig Pfund gab, damit sie sich Stoff besorgen konnte. Ich war das Ergebnis einer schnellen Nummer in einer schäbigen Wohnung, ein Geschäftsakt. Aber das wollte Anne sicher nicht hören, und ich wollte sie auch nicht aufregen. Deshalb stöhnte ich nur und hielt die Klappe.
Wir aßen noch einen zweiten Teller Suppe, dann legten wir uns ins Bett. Ich musste immer wieder an die beiden in der Kathedrale und an Anne selbst denken. Wenn ich die Chance hätte, mein Todesdatum rauszufinden, würde ich es tun? Wieso möchte man das mit sich rumschleppen? Die Tatsache, dass man es wüsste, würde doch wahrscheinlich das ganze Leben
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