Den Tod im Blick- Numbers 1
Welt – die ist Schein, nicht real. Ich kenne dich, Jem – das ist doch nicht das, was du wirklich willst, oder?«
Vielleicht kannte sie mich ja inzwischen doch. Ich grinste sie an.
»Nein – das ist Bullshit.«
Karen öffnete den Mund, um meinen Sprachgebrauch zu kritisieren, aber dann klappte sie ihn wieder zu, kam zu mir und nahm mich in den Arm.
»Ich will nichts davon«, sagte ich. »Ich will, dass das alles aufhört. Ich hätte nie jemandem davon erzählen dürfen.«
»Schon gut. Das wird schon.« Sie hielt mich noch immer fest, bis ich mich befreite.
»Aber es wird nicht aufhören. So was wächst sich immer weiter aus. Jetzt, wo es da draußen jeder weiß, ist es nicht mehr zu stoppen.«
»Ich glaube, du selbst könntest es stoppen.«
»Wie denn?«
Sie sah mich mit festem Blick an. »Sag ihnen einfach – sag ihnen, du hättest es alles erfunden. Es sei eine Lüge.«
KAPITEL 36
Das letzte Mal, dass ich aufstehen und vor einer Gruppe von Leuten sprechen musste, war in der Schule gewesen: »Mein schönster Tag.« Wie lange war das her? Einen Monat? Ich konnte mich nicht erinnern. Damals hatte ich vor der Klasse gestanden und die Wahrheit erzählt, oder sagen wir, meine Wahrheit. Das hatte nicht gerade gut funktioniert. Jetzt machte ich mich bereit, vor einer Meute von Fremden zu stehen – den Kranken und Sterbenden, den Journalisten, Menschen wie diesem Agenten und weiß Gott wem noch alles – und mich als Lügnerin zu bezeichnen. Ich würde leugnen, was mich mein ganzes Leben verfolgt hatte.
»Okay, bringen wir’s hinter uns.«
Karen drückte meinen Arm. »Gutes Mädchen«, sagte sie. Ich fürchte, sie dachte wirklich, ich würde jetzt die Wahrheit sagen. Sie hatte mir nie geglaubt. Nun war sie froh, dass ich es gestand.
Wir traten aus der Sakristei in die Kathedrale. Immerhin, es waren inzwischen weit mehr als fünfzig Menschen dort. Und es wirkte, als ob Hunderte herumliefen, die sich alle in der Nähe der Sakristeitür aufhielten. Sobald ich erschien, stieg der Geräuschpegel und die Leute bewegten sich auf mich zu. Karen führte mich mitten durch sie hindurch nach vorn in die Kirche, wo Anne mit Stephen, dem Rektor, stand.
»Jem möchte eine Erklärung abgeben«, sagte Karen zu ihnen. »Wo geht das am besten?«
»Nun ja –«, wollte Stephen gerade antworten, als sich der aufdringliche Typ von vorhin seinen Weg nach vorn bahnte und ihn unterbrach.
»Ich würde von einer öffentlichen Erklärung dringend abraten. Wir brauchen eine sorgfältig geplante Medienabstimmung. Du fährst viel besser mit ein paar spezifisch ausgehandelten Einzelabschlüssen. Komm schon, lass uns zurück in die Sakristei gehen.«
Er legte mir seine Hand auf den Arm. Ich versuchte ihn abzuschütteln, aber sein Griff war eisern.
»Finger weg!«, schrie ich »Ich bin nicht dein Eigentum und ich werd auch keine Geschäfte mit dir machen.«
Er wirkte total schockiert und verwirrt, als ob er nicht verstand, was ich sagte.
»Hast du mir nicht zugehört?«
»Doch, ich hab zugehört. Aber du nicht. Du hast mich ja nicht zu Wort kommen lassen. Ich hab kein Interesse. Und jetzt nimm die Hand weg, oder ich beiße.«
Er zog sie weg, doch er wich nicht von meiner Seite. Vielmehr beugte er sich dicht zu mir ran.
»Ich kann nicht glauben, dass jemand so eine Gelegenheit in den Wind schlägt. Entweder bist du völlig naiv oder extrem dumm.« Seine Stimme war jetzt ganz leise, aber Karen und die andern hörten ihn trotzdem.
»Sie ist nichts davon«, sagte Karen entschieden. »Sie ist eine starke Persönlichkeit und sie hat ihre Entscheidung getroffen. Jetzt möchte ich, dass Sie sie in Ruhe lassen.«
Da endlich zog sich Vic zurück, aber er ging nicht aus der Kathedrale, sondern blieb abwartend in der Menge stehen.
»Du wolltest doch etwas sagen, oder?«, fragte Stephen.
»Ja. Ich find, es ist Zeit … Zeit, dass ich aufhöre, andern Leuten die Zeit zu stehlen.«
Anne warf Karen einen besorgten Blick zu, doch Stephen nickte und wirkte erleichtert.
»Gut. Das freut mich. Dieses Tohuwabohu geht jetzt wirklich lange genug. Du kannst von hier sprechen.« Eine flache Treppe führte hinauf zu dem Teil, wo normalerweise der Chor saß, aber das brachte mich gerade mal auf Kopfhöhe zu den meisten in der Menge.
Ich schaute hoch zu der Kanzel. »Wie wär’s mit da oben? Da gibt’s auch ein Mikrofon.«
Sein Gesicht wurde roter.
»Das wäre vollkommen unangemessen …«, begann er zu poltern, doch dann besann er
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