Den Tod im Blick- Numbers 1
umkrempeln. Was, wenn dich das Wissen über den eigenen Todeszeitpunkt in Verzweiflung stürzte und du dich vorher umbrächtest? Wär das möglich? Könnte man die Zahlen überlisten, indem man sich entschied, früher abzutreten? Vielleicht hatte Spinne ja Recht, vielleicht konnten sich die Zahlen doch ändern.
Wie intensiv ich auch drüber nachdachte, es war nicht richtig, jemandem seine Zahl zu sagen. Ich hatte das instinktiv die ganze Zeit gewusst, und jetzt, nachdem das Geheimnis raus war, schien es noch wichtiger. Bestimmt, dachte ich beim Einschlafen, gab es ja ohnehin nicht so viele Leute, die ihre Zahl wissen wollten.
Am nächsten Morgen standen fünfzig Menschen vor der Tür.
Simon kam, als Anne und ich frühstückten, und erzählte es mir. Also, Anne frühstückte – ich schaffte bloß ein bisschen Tee.
»Heute sind eine Menge Leute da, Jem.«
Es war genau das, was ich nicht hören wollte. Ich war müde, ich fühlte mich wirklich elend und abgesehen davon interessierte mich nur ein einziger Besucher – heute mussten sie mir Spinne zurückbringen.
»Was erwarten die denn von mir? Ich bin doch nur ein Mädchen.«
Er zuckte die Schultern. »Wir können sie von dir fernhalten. Unser Team hier kann ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen.«
Anne stimmte zu. »Das ist richtig. Wir sind es gewohnt, mit Menschen in Krisensituationen umzugehen. Wenn ich hier fertig bin, komme ich und helfe mit.«
Sie wirkte so durchschnittlich, wie sie da stand; in ihrem Pulli mit Polokragen, ihrem Cordrock, ihren Stiefeln und der kurzen, schrecklichen Dauerwellenfrisur. Aber sie war nicht durchschnittlich. Sie war bereit, sich den ganzen Tag hinzusetzen und zuzuhören, wenn andere Leute von ihrer Angst erzählten, während sie gleichzeitig mit ihrer eigenen kämpfte. Selbst ich konnte das nicht einfach verächtlich beiseiteschieben. Respekt. Ich würde das nicht schaffen.
»Wie auch immer. Ich will sie nicht sehen. Ich kann das nicht. Ich hab ihnen nichts zu sagen.«
»Schon gut. Wir übernehmen das.« Simon verschwand, um Vorkehrungen zu treffen. Anne werkelte wieder rum und wusch Becher und ihre Frühstückssachen ab.
»Weißt du«, sagte sie, »du musst dir Gedanken darüber machen, was als Nächstes geschehen soll. Wo du hinwillst. Das hier ist nicht gerade der beste Ort, wo du bleiben kannst.«
»Ich weiß, was ich möchte – ich möchte ein bisschen Zeit haben mit meinem Freund … und dann, keine Ahnung …« Ehrlich gesagt hatte ich aufgehört, auch nur einen Gedanken an die Zeit nach dem Fünfzehnten zu verschwenden. Den Tag nach heute.
»Karen wird bald hier sein – ich denke, es herrscht Übereinstimmung, dass du mit ihr nach Hause zurückfährst. Sie kann dir bei allen juristischen Dingen beistehen, falls du wirklich angeklagt werden solltest. Sie kennt dich, Jem. Sie macht sich wirklich Sorgen.«
»Ich geh nicht zu Karen zurück.«
»Du bist fünfzehn, Jem. Du bist nicht alt genug, um da draußen allein zu überleben. Noch nicht.«
»Können wir bitte das Thema wechseln? Ich weiß nicht, was ich tun werd. Nicht bevor Spinne hier ist.«
Plötzlich merkte ich, dass ich mich seit dem Duschen bei Britney gar nicht mehr richtig gewaschen hatte. Ich wollte schön für ihn aussehen. Also verschwand ich in dem kleinen Umkleideraum, zog mich aus und wusch mich so gut es ging mit Seife und Wasser aus dem Waschbecken. Zumindest konnte ich sauber sein, auch wenn ich noch immer in Britneys etwas zu großen Klamotten steckte. Außerdem machte mich das Waschen wach – ich wurde das fade verkaterte Gefühl los. Ich konnte es nicht mehr erwarten, ihn endlich zu sehen – ich hatte mich noch nie in meinem Leben so sehr auf etwas gefreut.
Als ich in die Sakristei zurückkam, war Karen wieder da. Wie ich da so mit nackten Füßen und einem Handtuch um den Kopf aus dem Umkleideraum trat, lief sie auf mich zu und nahm mich in den Arm. »Jem, wie geht’s dir? Heute siehst du ja schon etwas besser aus.«
Sie hielt mich von sich weg, ließ aber beide Hände auf meinen Schultern liegen. »Die Leute da draußen versuchen verzweifelt, mit dir zu sprechen. Es ist alles so absurd, aber ich denke, du solltest dir genau überlegen, was du tust, denn –«
Sie hatte keine Chance, den Satz zu beenden, denn im selben Moment sprang die Kirchentür auf und ein protziger Kerl mittleren Alters fegte herein und schoss zielstrebig auf mich zu.
»Hi, Jem, schön dich zu treffen. Ich bin Vic Lovell.« Er schritt mit
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