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Den Tod im Blick- Numbers 1

Den Tod im Blick- Numbers 1

Titel: Den Tod im Blick- Numbers 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Ward
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Medaille.
    Plötzlich schlugen die Wände der Sakristei über mir zusammen. Ich brauchte ein bisschen Platz zum Atmen. Also ging ich hinaus in die Kathedrale. Es waren eine ganze Menge Menschen dort und ich hatte das Gefühl, dass einige mich erspäht hatten, als ich über die Gedenksteine lief und versuchte, nicht auf einen der Namen zu treten.
    Ein paar Minuten später kam eine Frau mit einem Kopftuch auf mich zu. Ich war in der Kapelle, dort, wo ich gesessen hatte, um mich aufzuwärmen, an dem Morgen, als Simon mich reinließ.
    »Entschuldigung«, sagte sie unsicher. »Bist du Jem, das Mädchen, über das alle reden?«
    »Keine Ahnung«, sagte ich, »ich bin Jem, aber von dem Rest weiß ich nichts.«
    »Du warst in den Nachrichten, und im Internet findet man alle möglichen Geschichten.« Sie stand vor mir, doch ihre Beine fingen an einzuknicken. »Macht es dir etwas aus, wenn ich mich hinsetze? Ich bin ein bisschen … müde.«
    Es machte mir was aus. Ich hatte so eine Ahnung, worauf die Unterhaltung hinauslaufen würde, und ich wollte mich nicht drauf einlassen. Ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Ich sagte nichts, aber sie setzte sich trotzdem, direkt neben mich auf die gepolsterte Steinbank.
    »Die Sache ist die«, fuhr sie fort, »es heißt, du kannst die Zukunft vorhersehen. Die Zukunft der Leute. Deshalb wärst du vom London Eye weggelaufen.«
    Sie unterbrach sich und sah mich an. Ich begegnete ihrem Blick und ich sah in der Tat ihre Zukunft, oder zumindest ihr Ende. In zweieinhalb Jahren. Und ich dachte: Du blöde, blöde Gans, Jem. Ich hätte es nie jemandem sagen dürfen – es hätte für immer mein Geheimnis bleiben müssen.
    »Das sind nur Gerüchte«, murmelte ich. »Sie wissen ja, wie die Menschen sind.«
    »Aber irgendwas ist doch, oder? Irgendwas ist anders an dir.« Sie forschte in meinem Gesicht, als ob sie dort eine Antwort finden würde. »Kannst du es?«, fragte sie. »Kannst du in die Zukunft schauen?«
    Ich wand mich auf meinem Platz. Ich versuchte sie nicht anzuschauen, hielt den Blick auf meine Hände und Füße gerichtet und sagte nichts. Es schreckte sie nicht ab. Vielmehr fasste sie nach oben, zog an dem Ende des Kopftuchs, band es ab und ließ ihren kahlen, fast kahlen Schädel, nur hier und da ein paar Büschel Haare, sehen. Es machte sie auf schockierende Weise nackt.
    Sie streckte die Hand aus, um meine zu berühren. Ich wollte sie wegstoßen, ihr sagen, sie solle verschwinden. Ich kann gar nicht sagen, wie schwierig es für mich ist, wenn ein Fremder dicht neben mir sitzt und mich berühren will. Mein ganzes Leben lang hab ich darauf geachtet, Abstand zwischen mir und andern zu halten, Mauern zu errichten. Körperliche Nähe zu jemandem verursachte früher sofort, dass ich ein Gesicht zog, meinen Widerwillen zeigte und mich verzog. Außer bei Spinne natürlich.
    Mit ihm war alles anders gewesen.
    Aber die Willenskraft dieser Frau hielt mich zurück – vielleicht war ich ja tief im Innern doch eine anständige Person. Ich legte meine Hand auf ihre und schob sie behutsam fort. Ihre Finger umschlossen meine, sie fühlte die Wunde an meiner Hand, drehte sie zu sich hin und rang nach Luft, als sie die rote, entzündete Schnittwunde des Stacheldrahts sah.
    »Was ist?«
    »Das Zeichen des Kreuzes auf deiner Hand.«
    Das war zu viel.
    »Sie machen Witze!«, sagte ich. »Ich hab mich an einem Stacheldraht verletzt, das ist alles. Das ist alles.«
    Sie wiegte weiter meine Hand in ihrer.
    »Bitte, sag mir, was du weißt. Ich verkrafte es.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen gar nichts sagen. Tut mir leid.« Ich kam mir in die Enge getrieben und nutzlos vor. Ich stand auf. »Tut mir leid. Ich hab … ich muss …«
    Sie verstand den Hinweis, stand auch auf, nahm ihre Tasche und das Kopftuch und band es sich wieder um.
    »Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann«, sagte ich und meinte es wirklich. Sie presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und nickte, ihre Gefühle lagen jetzt zu dicht an der Oberfläche, als dass sie noch etwas hätte sagen können.
    Ich ließ sie, mit ihrem Kopftuch hantierend, allein und stolperte raus in die Hauptkirche. Simon stand mit dem Rücken zu mir auf halber Höhe des Gangs und sprach mit einem alten Mann. Als er mich sah, verstummte der Mann mitten im Satz, schob sich an Simon vorbei und kam direkt auf mich zu.
    Er war so dürr, dass man sein Skelett durch die Haut sehen konnte, die Augen waren fast glasig. Ich

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