Den Tod im Griffl - Numbers 3
die Zahl meines Kindes stehlen. Du kannst Zahlen stehlen …«
»Stehlen ist so ein hässliches Wort. Ich würde lieber sagen, tauschen.«
Zahlen tauschen. So wie Mia. Ist er wie Mia? Ist Mia wie er ? Sind sie gleich? Das kann nicht sein. Meine Tochter kann doch niemals so sein wie dieses Monster. Oder?
»Ich dachte, du wolltest Mia?«, sage ich dämlich.
»Wollte ich auch, als ich noch davon ausging, dass sie Adams Blut in ihren Adern hatte, aber das war noch so eine Lüge von dir, noch so ein Betrug, nicht wahr? Ich hab keine Zeit mehr. Heute ist es so weit, Sarah, deshalb musst du jetzt ran.«
»Wieso heute? Wieso jetzt?«
»Meine Zahl ist fällig. Ich habe ein Leben aufgebraucht. Ich brauche ein neues. Und jetzt halt still.«
Er fixiert mich mit seinen Augen und der Speicheltropfen sitzt wieder in seinem Mundwinkel. Er ist erregt, so wie er es vor der Geburt des Babys war. Ich bin völlig schutzlos. Es gibt nichts, wo ich mich verstecken kann.
Er nimmt mein Gesicht in seine Hände. Sie sind rot und klebrig von meinem Blut. Er spreizt die Finger, so dass er meinen Kopf still halten kann, die Handballen an meinem Kinn, die Fingerspitzen in meinen Haaren. Er führt sein Gesicht heran. Immer näher. Näher.
Ich sehe jede Einzelheit, jeden Pickel und jede Pockennarbe, jede kleine Wunde, jede Pore. Ich will ihm nicht so nah sein. Ich will nicht, dass er mich berührt. Ich schließe die Augen.
»Nein, nein, Sarah«, sagt er und seine Stimme ist nur noch ein Flüstern. »Nein, nein, ich brauche deine Augen offen.«
Ich presse sie fester zusammen.
»Öffne deine Augen. Öffne sie!«
Ich habe Schmerzen, ich bin schutzlos, aber ich bin noch nicht besiegt. Es ist noch immer ein Rest der alten Sarah da; der Sarah, die ihr Zuhause verließ und sich ein neues Leben aufgebaut hat, der Sarah, die gekämpft und zwei harte Winter lang drei Kinder versorgt hat.
»Nein«, sage ich und halte die Augenlider fest zu. »Verpiss dich, Saul. Verpiss dich und lass mich in Ruhe.«
Er knurrt wie ein Tier und bewegt dann seine Hände auf meinem Gesicht. Er drückt seine Daumen in die Haut über den Augenlidern und zwingt sie dazu, sich zu öffnen. Er ist jetzt direkt vor meinem Gesicht.
»Sieh mich an, Sarah. Sieh mich an.«
Seine Augen sind jetzt fest auf meine geheftet. Die Pupillen sind weit, sie verdunkeln die Iris. Seine Augen sind auf einmal nur noch schwarz und weiß, und sosehr ich wegschauen möchte, ich kann nicht. Ich schaue in seine Augen und es ist, als ob ich stürze. Der Boden unter mir ist verschwunden, genau wie die Bäume über mir. Oder vielleicht bin ich es selbst. Ich bin nicht mehr da – ich bin irgendwo anders, in einem zeitlosen, dunklen und leeren Raum, irgendwo an einem Ort der Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und Kälte, einer grausigen Kälte.
Ich spüre einen Blitz und einen Schmerz, als ob ein heißer Draht durch meinen Kopf schneidet.
Ich schreie oder vielleicht glaube ich es auch nur. Mein Körper zuckt und mein Kopf schlägt zurück auf den Boden.
Saul lässt mein Gesicht los und entfernt sich.
»Passt doch«, sagt er. »Sechsundvierzig Jahre. Das genügt vollauf. Tschüss, Sarah.«
Ich höre Äste knacken, Kies knirschen, aber ich beobachte nicht, wie er weggeht. Alle Kraft hat mich verlassen. Ich liege, wo er mich zurückgelassen hat, das Gesicht in den kalten, nassen Blättern. Das Baby liegt neben mir. Ich sehe den oberen Teil ihres Kopfs, ihre kleine Nase, ihre Augen, geschlossen, als wenn sie schliefe. Aber sie schläft nicht. Sie macht Geräusche. Nicht dass sie weint, aber sie probiert aus, was ihr Mund und ihre Lunge zu Stande bringen.
»Hallo«, sage ich.
Als sie meine Stimme wahrnimmt, hört sie auf, Geräusche zu machen. Sie dreht den Kopf in meine Richtung, dann bewegt sie ihn hin und her. Sie sucht mich. Sie muss Hunger haben.
Ich wünschte, ich hätte die Kraft, sie an mich zu ziehen. Aber ich bin zu schwach. Saul hat mir alles genommen. Sie kann keine Milch von mir bekommen. Auf einmal wird mir bewusst, ich werde sterben. Ich hatte kurz daran gedacht, als ich Sauls Messer sah. Doch diesmal weiß ich es. Er hat mir mein Leben genommen. Und wenn ich sterbe, wird auch mein Baby sterben.
Es ist so traurig, so schrecklich traurig, aber ich kann nichts mehr dagegen tun. Sie nur trösten, auf die einzige Weise, die mir geblieben ist. Mein Atem geht schnell und flach, doch ich hole ein bisschen Luft und singe für sie.
»Zwinker, zwinker, kleiner Stern.« Meine Stimme ist
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