Den Tod vor Augen - Numbers 2
Gewicht auf meiner Brust, das zu schwer ist, als dass ich dagegen ankäme; Blut, das aus mir herausströmt, unaufhaltsam; meine Lunge, die nicht funktioniert, und ich kämpfe um Luft, die ich nicht kriege. Ich fühle sämtliche Tode. Sie durchdringen mich, hinterlassen Spuren. Jeder einzelne macht mich fertig. Jeder einzelne schockiert und schwächt mich.
Ich schreibe sie auf, versuche, jeden einzelnen Tod, jede Gruppe von Toden aus meinem Kopf in mein Buch verschwinden zu lassen. Früher hat das geklappt, aber jetzt nicht mehr, und ich halte nicht mehr als ein paar Stunden am Stück aus. Danach ist mein Kopf zu voll. Ich muss verschwinden, fort von den Menschen, ihren Geschichten, ihrem Ende.
»Hölle noch mal, siehst du schlecht aus, Adam. Wo bist du gewesen?«
Sobald ich zur Tür hereinkomme, fängt Oma an, auf mir rumzuhacken.
»Wo bist du gewesen? Wohin willst du? Mit wem warst du unterwegs?«
Ich wünschte, ich könnte woandershin, aber ich hab nur das hier. Mein Zuhause. Oder was sich so schimpft. Eine kleine Schuhschachtel mit zwei Leuten drin, die nicht zusammen sein sollten. Ich schiebe mich an ihr vorbei, gehe die Treppe hinauf in mein Zimmer und schließe die Tür. Das ist es, was ich will, was ich brauche – eine geschlossene Tür, keine Gesichter mehr, keine Augen, keine Tode.
Ich liege auf dem Bett oder sitze auf dem Fußboden, doch mein Kopf brummt und ich trommle mit den Fingerspitzen einen Rhythmus auf dem Bettrahmen oder die Füße zucken, zucken, zucken. Ich kann nicht einfach dasitzen und warten. Ich muss etwas tun.
Ich hole mein Notizbuch heraus und blättere die Seiten durch. Orte und Zahlen und Tode. Ich seh sie mir immer wieder an. Überall Achtundzwanziger. Was wird hier geschehen? Was wird in London passieren, das so viele Menschen tötet? In manchen Vierteln ist jeder Vierte ein Achtundzwanziger, in anderen jeder Dritte. Wie viele Menschen leben in London? Neun Millionen? Kann es sein, dass drei Millionen Menschen nur noch zehn Wochen zu leben haben? Bin ich einer davon?
Die Todesarten sind alle gewaltsam: gespaltene Knochen, gebrochene Rücken, zertrümmerte Schädel. Tode, wie sie geschehen, wenn Gebäude einstürzen, in die Luft fliegen oder zerbombt werden.
Es muss etwas in dieser Art sein, denn wenn es eine Krankheit wäre – eine Grippe oder Seuche –, lägen die Todesdaten doch weiter auseinander. Es würde nicht alles innerhalb weniger Tage passieren. Und ich würde nicht fühlen, was ich fühle, wenn ich die Zahlen sehe – ich müsste mich dann ja heiß und schwach und erschöpft fühlen. Oder?
Ich kapiere langsam, dass es ein Muster gibt. Wenn ich es doch nur sähe. Ein Muster in den Zahlen. Die Zahlen versuchen, mir etwas zu sagen. Dann fange ich plötzlich an zu glauben, dass mein Notizbuch nur ein Anfang ist – dass ich etwas machen könnte mit diesen Informationen. Ich habe Orte. Ich habe Daten. Ich habe Arten zu sterben. Vielleicht könnte ich alles auf einer Karte darstellen. Ich hole mir Omas Straßenatlas von London aus dem Wohnzimmer. Sie streckt den Kopf aus der Küche, als sie mich hört, will etwas sagen, aber ich blende sie aus, schnapp mir den Atlas und stampfe wieder die Treppe nach oben.
Die Kartenausschnitte sind nur klein und es ist schwierig, die Mitte der Doppelseiten zu erkennen. Ich beginne mit den Karten, die die Straßen hier in der Gegend zeigen, und reiße sie raus. Sie lassen sich nicht sauber lösen, deshalb fehlen in der Mitte Stücke, als ich die Karten auf meinem Schreibtisch zusammenlege. Ich hole meinen Bleistiftkasten aus der Schultasche und fange an, mein Notizbuch durchzuackern. Anfangs trage ich für jeden Menschen einen Punkt ein, aber die Karte ist zu klein, weshalb nach den ersten zehn Punkten, die ich auf der Karte verewige, nur noch ein einziges Klecks-Chaos zu sehen ist. Ich weiß, es ist Schwachsinn, aber ich mach noch ein bisschen weiter, dann lehne ich mich zurück, schaue auf das, was ich gemacht hab, lege beide Hände auf die Seiten, knüll sie zusammen und werf sie durchs Zimmer. Es ist aussichtslos.
Mein Palm-Net liegt auf dem Schreibtisch. Es ist klein, aber ich habe es im Unterricht und für die Hausaufgaben benutzt, es hat jede Menge Apps. Es muss auch eine Anwendung geben, die mir hierbei hilft. Wenn mir Mum nur erlaubt hätte, einen PC zu haben … Aber sie wollte kein Internet in der Wohnung. Immer meinte sie, es bestünde aus »lauter Lügen«. Jetzt begreife ich, dass sie mir nur die Wahrheit
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