Den Tod vor Augen - Numbers 2
tatsächlich sieht, lebt er in genau so einem Albtraum wie ich. Armes Schwein. Und sein Gesicht … was er durchgemacht hat.
Ich schüttle den Kopf. Ich darf nicht mehr über ihn nachdenken. Ich habe es so weit geschafft. Fort von zu Hause, Mia bekommen und eine Art Leben gefunden. Ich kann mich nicht noch um ein anderes, einen anderen kümmern. Alles muss sich um Mia und mich drehen. Und vielleicht hat Adam ja Recht. Wir sollten wegziehen von hier, sofort. Ich werde mit Mia auf schnellstem Wege London verlassen, fort von all dem Leid, fort von ihm. Irgendwohin, wo er uns niemals findet.
ADAM
Ich bin so ein Idiot. Bei dem Bild, diesem Wandgemälde, hatte ich mich nie gefragt, wer eigentlich das Baby war. Ich war ganz auf mich fixiert gewesen, nur auf mich. Wichser! Es ist das Baby, das Baby, um das sie Angst hat.
Ihr Baby.
Ich hatte ja keine Ahnung – sie muss in der Schule schon schwanger gewesen sein, aber ich hab’s nicht gemerkt. Ich war hypnotisiert von ihrem Gesicht, ihren Augen, ihrer Zahl.
Es regnet noch immer, als ich durch die Straßen renne. Meine Füße klatschen auf den nassen Gehweg und die Worte in meinem Kopf fallen in den Rhythmus ein: Sarahs Kind. Sarahs Kind.
Ich hatte gedacht, es wäre schlimm genug, so wie ich zu sein und mit der Last von tausend Toden um mich herum zu leben. Aber verdammt, wie muss es erst für sie sein – wo das Jahresende immer näher und näher rückt und sie ständig das Bild ihres Kindes in den Flammen vor Augen hat? Ich darf nicht zulassen, dass Sarahs Albtraum wahr wird. Ich muss mit allem, was mir möglich ist, dagegen ankämpfen.
»Du siehst aus wie eine ertränkte Ratte. Hast du’s gefunden?« Oma hat ihren Schemel verlassen und lauert an der Tür, als ich reinkomme.
»Ich hab das Haus gefunden und ich hab sie gefunden.«
»Wen?«
»Das Mädchen, das das Wandbild gemalt hat. Es war Sarah, das Mädchen aus der Schule, das Mädchen aus dem Krankenhaus.«
»Und was ist mit ihr?«
»Sie hat Albträume und ich komme drin vor.«
Jeder andere würde ein Gesicht ziehen, vielleicht die Stirn runzeln und fragen, wovon ich rede. Aber nicht Oma. Sie kapiert sofort.
»Das Bild. Es ist ihr Albtraum, ihre Vision. Sie ist eine Seherin, Adam. Sie kann hellsehen.«
»Außerdem hat sie ein Baby.«
»Ein Baby?«
»Ich hab es gesehen. Es ist eine Achtundzwanzigerin, Oma. Es wird sterben wie alle andern.«
Ich will das eigentlich gar nicht sagen. Aber es liegt an Oma, an der Art, wie sie zuhört, dass mein Mund mir nicht mehr gehorcht. Und auf einmal ist es raus. Ausgesprochen.
Oma reißt die Augen auf.
»Das Baby stirbt? O nein … und du bist bei ihm. In dem Bild. Verdammt, Adam. Du weißt ja wohl, was das bedeutet, oder?«
Ich schüttle den Kopf. Meine Beine fühlen sich an wie Wackelpudding, ich versteh überhaupt nicht, wieso ich noch immer stehe.
»Es bedeutet, dass du sie nie wiedersehen darfst. Ich muss dich von hier wegbringen, raus aus London, wie du es wolltest. Du darfst nicht mehr hier sein, wenn es passiert. Du darfst auf keinen Fall in ihrer Nähe sein.«
»Genau das hat sie auch gesagt.«
»Das Mädchen? Sarah?«
»Ja, sie hat gesagt, ich soll verschwinden. Und nie wiederkommen.«
»Ist sie dafür verantwortlich?«
Oma hebt ihre Hand an meinen Kopf. Als sie sie wieder wegnimmt, klebt Blut an ihren nikotinvergilbten Fingerspitzen.
»Ja, aber das war noch vorher. Als sie mich das erste Mal gesehen hat, ehe wir geredet haben. Sie hat mich mit einem Stein getroffen.«
»Nett, deine Freundin. Hat wirklich Stil.«
»Halt die Klappe, Oma. Du kennst sie nicht.«
Sie schnieft.
»Bin mir auch gar nicht sicher, ob ich das will.«
»Du wirst ihr jetzt sowieso nicht mehr begegnen. Ihr habt beide Recht. Ich sollte mich von ihr, von dem Baby fernhalten. Wenn ich das tue, kann der Albtraum doch nicht wahr werden, oder?«
Oma zwingt mich, am Küchentisch Platz zu nehmen, während sie eine Flasche Desinfektionsmittel holt und mir mit Watte ein bisschen davon auf den Kopf tupft.
»Oma«, sag ich, »ist Nelson heute noch mal hier gewesen?«
»Nein. Wieso?«
»Weil ich glaube, es stimmt, was du gesagt hast. Wir müssen die Menschen warnen. Wir können diese Scheiße nicht einfach so hinnehmen.«
Sie hört auf zu tupfen und sieht mich an.
»Meinst du das wirklich?«, fragt sie.
»Ja. Es ist zu groß, zu ernst. Es ist mir egal, ob mich die Leute für einen Spinner halten. Wir müssen ihnen die Chance geben, hier rauszukommen. Und dann müssen auch
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