Denk an unsere Liebe
sagte Frau Torverud. „Glauben Sie mir, ich habe keine Angst vor dem Tod. Da müssen wir nun einmal hindurch. Aber ich denke an die, die weiterleben.“
„Haben Sie das dem Chefarzt gesagt?“ fragte Toni.
„Der Chefarzt“, wiederholte Frau Torverud, „ich kann ja nie mit ihm sprechen. Wie könnte ich das, wenn er einmal am Tag hierherkommt mit einem ganzen Schwanz von Schwestern und Assistenten. Das ist es ja gerade, daß ich nie reden und nie einen richtigen Bescheid bekommen kann. Deshalb ist es so gut, daß Sie gekommen sind. Sie müssen ja ein reiner Segen sein für die Patienten.“
„Ich werde mit dem Chefarzt sprechen“, hatte Toni gesagt.
Nun wollte sie es tun. Es war nicht leicht, er war ein älterer, erfahrener Arzt, sie eine verhältnismäßig junge und unerfahrene Frau in einer neuen Stellung. Ihre ganze Arbeit war im Grunde ein Experiment. Aber wenn eine Kranke so entschlossen darum bat, ihr die Wahrheit zu sagen, dann mußte sie das dem Chefarzt mitteilen. Sie mußte ihn aufsuchen.
Der Chefarzt war in seinem Sprechzimmer und empfing sie freundlich. „Nun, Frau Löngard? Welche Seele wollen Sie mir heute unterbreiten?“
„Ich möchte nur fragen, wieviel Frau Torverud von Nummer 15 weiß. Wieviel darf ich ihr sagen?“
„Tja“, sagte der Chefarzt, „ich habe vermieden, ihr zu sagen, wie schlimm es ist. Ich sagte, der Wahrheit entsprechend, sie habe ein Magengeschwür gehabt, und dies sei nun operiert, aber…“
„Es ist Magenkrebs, nicht wahr?“
„Gewiß. Und die Operation verlief ja gut, sie ist ein starker Mensch.“
„Ja“, sagte Toni, „sie ist ein starker Mensch, seelisch stark.“ Und sie wiederholte das Gespräch mit Frau Torverud. Der Chefarzt überlegte.
„Ja, was Sie mir da sagen, beweist, daß Frau Torverud ein Mensch ist, der allem klar ins Auge schaut. In solchen Fällen ist es manchmal besser, den Patienten nicht im ungewissen zu lassen. Er stellt sich sonst alles noch schlimmer vor, als es in Wirklichkeit ist. Schließlich weiß niemand, wann er sterben muß. Und Krebskranke, wie Frau Torverud, bei denen eine Operation gut verlaufen ist, können noch viele Jahre lang ganz ohne Beschwerden leben. – Was würden Sie denn an meiner Stelle tun, Frau Löngard?“
Toni dachte nach. Sie fühlte die Verantwortung so schwer auf sich lasten, daß ihr schauderte.
„Ich glaube“, kam es langsam, „Frau Torverud gehört zu den seltenen Menschen, die es ertragen, die Wahrheit zu hören. Ich meine, ein seelisch starker und gesunder Mensch hat einen Anspruch darauf, die Wahrheit über sich selbst zu erfahren. Es kommt mir so vor, als ob, ja, als ob Frau Torverud zu gut dafür wäre, dazuliegen und zum Narren gehalten zu werden. Ich finde, sie ist zu gut dazu, mit Trostworten abgespeist zu werden, wie man sie gegenüber einem Kind gebraucht. Sie glaubt uns unsere Ausreden nicht. – Ich meine, man sollte ihr die Wahrheit sagen.“
Der Chefarzt dachte nach. „Natürlich“, sagte er langsam, „natürlich habe ich Fälle gehabt, wo ich die Wahrheit gesagt habe. Vielleicht am ehesten, wo sie eine traurige Gewißheit war. Aber – in diesem Fall weiß ich es faktisch nicht. Es kann schlecht gehen, aber es kann auch gut gehen. Wenn wir ihr sagen, sie habe Magenkrebs, und es ist möglich, daß eines Tages die Krankheit erneut ausbricht, so wird sie in ewiger Angst leben.“
„Tut sie das nicht auch jetzt schon?“ wandte Toni ein.
„Sie haben recht. Diese Angst können wir ihr nicht fortnehmen. – Sie meinen, es bedeutet für Frau Torverud eine Beruhigung, wenn sie weiß, wie es um sie steht, und wenn sie ihr Leben danach einrichten kann?“
„Ja“, sagte Toni.
Der Chefarzt richtete den Blick auf sie. „Gut, Frau Löngard“, sagte er. „Wir wollen es in diesem Fall tun. Gerade weil wir mit gutem Gewissen sagen können, daß die Krankheit auch einen guten Verlauf nehmen kann. Aber man muß ihr auch über die andere Möglichkeit klaren Wein einschenken. Wollen Sie es ihr sagen?“
Toni biß sich auf die Lippen. Es graute ihr, sie fror bei dem Gedanken. Aber trotzdem. Waren es nicht gerade solche Aufgaben, die sie übernommen hatte? Sie hatte im vorhinein gewußt, daß ein Krankenhauskurator sich nicht nur durchs Leben lächeln kann. Hatte sie nicht selbst diese Arbeit gewählt? Kurator zu sein, war gewiß nicht dasselbe, wie an den Krankenbetten salbungsvollen Trost zu spenden.
„Ja“, sagte Toni, „ich will es tun.“
Der Chefarzt holte sein Journal und
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