Denk an unsere Liebe
erwachsen zu sein. Sie muß lernen, das Schürzenband der Mutter loszulassen. Sie muß es lernen, solange sie mich noch hat.“
Wieder schwieg Frau Torverud. Die Stimme wurde matter.
„Jetzt bin ich dreiundvierzig. Aber ich finde, gewissermaßen habe ich doch lange genug gelebt. Ich habe doch das vollbracht, was ich sollte, so daß es jetzt andere bloß fortzusetzen brauchen. Ich würde wohl noch gerne länger gelebt haben. Aber darf ich das nicht, so will ich glücklich sein über all das Gute, das ich gehabt habe.“
Sie flüsterte die letzten Worte. Und dann wurde es still. - Nach einer Weile erhob sich Toni.
„Frau Torverud, wünschen Sie, daß ich etwas für Sie tue?“
Das stille ruhige Gesicht wandte sich gegen Toni.
„Nein, danke. Jetzt nicht. Mir geht es so gut. Und nun sollen Sie gehen – gehen Sie jetzt nach Hause? Wohnen Sie im Krankenhaus?“
„Nein, ich nehme die Straßenbahn heim.“
„Heim zu Ihrem Mann. Ja, denn Sie sind ja Frau. Haben Sie einen guten Mann?“
„Ja“, sagte Toni mit einem warmen Blick, „das habe ich.“
„Das habe ich auch“, sagte Frau Torverud. „Wollen Sie mir helfen, ihm einen Brief zu schreiben? Morgen?“
„Gern auch heute, Frau Torverud.“
„Nein. Heute nicht. Diesen Brief will ich erst überlegen. Einen solchen Brief schreibt man nur einmal in seinem Leben. Und wenn ich ihn noch dazu diktieren muß, nein, nun sollen Sie heimgehen. Jetzt muß ich allein sein.“
Toni reichte ihr die Hand.
„Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, Frau Torverud.“
„Sagen Sie nichts. Das braucht es nicht. Dank dafür, daß Sie ehrlich zu mir waren. Und Dank, daß Sie mir zugehört haben. Jetzt möchte ich allein sein. Ganz allein.“ -
Toni kam es vor, als ob sie bei einer Andacht gewesen wäre. Sie ging in ihr Büro zurück, schloß den Schreibtisch ab und den Kartothekschrank, zog sich an und ging. Die Straßenbahn war voll.
Sie scheute das Gedränge und die Unruhe um sich und zog es vor, zu Fuß heimzugehen.
Sie war voller Frieden, beinahe voller Feierlichkeit, nachdem sie Frau Torverud angehört hatte. Die stille Stimme klang noch in ihr nach, sie folgte ihr, und sie kam sich klein und beinahe demütig vor gegenüber diesem einfachen, starken, wie aus einem Guß geformten Menschen. Solche Stunden bildeten die großen Meilensteine in ihrer Arbeit.
*
„Na, da bist du ja endlich. Ich bin fast verschmachtet vor Hunger. Hast du Liebesbriefe für einen Seemann geschrieben oder einem weinenden Kind Märchen erzählt?“
Eivind hatte seinen neckenden Ton – war sanft und freundlich und half ihr den Mantel abzulegen.
Toni brauchte Zeit, sich zu sammeln. Die Augen, die sie auf Eivind richtete, waren blank und ernst, dunkler als sonst, und mit einem fernen Ausdruck.
„Pst, pst, komm auf die Erde zurück, mein Schatz. Berit jongliert mit geräucherter Zunge und Rübenpüree in der Küche, und ich habe Karten zum Walt-Disney-Film in der Tasche. Was kannst du dir noch wünschen? Außerdem schimpfe ich nicht im geringsten, obwohl du Fünfviertelstunden zu spät zu Mittag kommst. Hast du vielleicht keinen braven Mann?“
„Ja“, sagte Toni und erwiderte seinen Kuß. Aber ihre Gedanken waren unendlich weit weg.
„Was kannst du dir noch wünschen?“ hatte Eivind gesagt. Und es durchfuhr sie: Frieden, Schweigen, Stille, Einsamkeit. Gerade jetzt. Gerade heute. Eine Stunde Alleinsein! Nicht genötigt sein, zu sprechen. Das Band nicht zerreißen müssen, das sie mit den Erlebnissen des Tages verknüpfte. Nicht gezwungen sein, die stille Andachtsstimmung zu zerstören! „Nun, mein Philosoph! Vergiß nicht Frau Brachfeldts Philosophie! Abschalten, wenn ich bitten darf! Keine Krankenhausgedanken mehr!“
Toni riß sich gewaltig zusammen und lächelte Eivind zu; und sie versicherte ihm, sie sei hungrig und freue sich auf das Essen. Und es sei gut, ein Mittagsschläfchen zu halten, und Walt Disney sei das Lustigste, das sie kenne.
Aber am Abend, als sie im Kino saß und Eivind neben ihr vor Lachen schrie und zwischendurch bewundernde Ausrufe von sich gab, da mußte Toni plötzlich die Augen schließen. Die muntere Musik und das Gelächter des Publikums glitten aus ihrem Bewußtsein. Sie saß in einem stillen Krankenzimmer, an einem weißen Bett und fühlte, wie ein großer, kühler Frieden sich über sie senkte. Und aus der bleichen, blauen Stille kam eine Stimme und sagte:
„Mir geht es gut. Nun möchte ich allein sein. Ganz allein.“
Die Worte
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