Denk doch, was du willst
wahr, wenn es viele andere auch erlebt haben und bestätigen könnten.
Weil sie sich sozial bewährt haben, sind übrigens auch die sogenannten urbanen Legenden nicht kleinzukriegen.Unglaubliche Storys, skurrile Geistergeschichten und kaum nachvollziehbare Verschwörungstheorien werden ständig weitererzählt. Für mich ist das erstaunlichste Phänomen daran, dass diese bei jedem weiteren Erzählen immer wilder werden. Zudem werden sie von immer mehr Menschen für bare Münze gehalten, je länger sie hartnäckig kursieren. So ist das eben: Gerüchten, die häufig wiederholt werden, wird mehr Glauben geschenkt als wahren Geschichten, die nicht so oft Erwähnung finden. Wiederholung geht über Wahrheit. Können so viele wirklich nicht irren? Doch, können sie.
Bis vor kurzem glaubte ich selbst beispielsweise, dass die Inuit bis zu fünfzig Wörter für Schnee hätten. Dann haben mich die Redakteure von «Bayern 2» aufgeklärt. Die Inuit haben auch nicht mehr Wörter für Schnee als die Deutschen. Einem Artikel der
Süddeutschen Zeitung
zufolge verfügen sie sage und schreibe über zwei Wörter für Schnee.
Diese urbane Legende zeigt, wie sehr man in die Irre geleitet werden kann, wenn viele etwas erzählen. Man kann ja auch nicht alles überprüfen und vertraut zu oft darauf, dass die Informationen stimmen. Vor allem wenn sogar Anthropologen, Sprachwissenschaftler und Wissenschaftler davon sprechen und solche Anmerkungen auch in durchaus namhaften Zeitungen und sogar Schulbüchern publiziert werden. Trotzdem stimmt vieles einfach nicht! Nachweislich! Obwohl es so logisch scheint.
Meistens wurde so argumentiert, dass Inuit deshalb so viele Wörter für Schnee hätten, weil es ihnen, in ihrer Umgebung, nütze zu differenzieren. Das hört sich vernünftig an, ist aber Unsinn. Im Umkehrschluss könnte man meinen, dass die Deutschen fünfzig Wörter für Haus hätten.Schließlich prägen Häuser unser Landschaftsbild in ähnlichem Maß wie der Schnee die Umgebung der Inuit. Trotzdem haben wir keine fünfzig Wörter dafür. Wir benutzen nämlich Zusammensetzungen, um unsere Unterscheidungen zu treffen. Wir sprechen also vom Hochhaus, Doppelhaus, Bauernhaus, Mehrfamilienhaus, Holzhaus usw. Man nennt die auch zusammengesetzte Substantive oder Komposita – so, das musste ich jetzt einfach schreiben. Doch zurück zum Thema: Sie sehen, nur weil viele Menschen etwas glauben, ist das objektiv gesehen noch lange nicht wahr. Trotzdem sind wir dann sehr geneigt, das für richtig zu halten.
Ich selbst bin kürzlich noch in genau diese Falle getappt. Ein Kunde buchte mich für eine Jahrestagung in Kassel. Mein Vortrag war für sechzehn Uhr angesetzt. Trotzdem sollte ich bereits am Vorabend anreisen. Das erstaunte mich, denn mein Vortrag erfordert weder einen hohen technischen Aufwand noch viel Vorbereitung. Trotzdem bestand der Kunde darauf. Ich sagte ihm, das sei meines Erachtens wirklich nicht notwendig. «Wir machen viele Veranstaltungen, und das machen bei uns alle Künstler so!», war seine deutliche Aussage.
Diese Worte waren seine Zauberformel: soziale Bewährtheit. Ich reiste einen Tag vorher aus München nach Kassel, war in einem schäbigen Hotel untergebracht, aber fügte mich meinem Schicksal. Auf meine Frage nach der Möglichkeit, etwas zu Abend zu essen, antwortete die Dame am Empfang: «Falls Sie noch was speisen wollen, dann können Sie fünf Minuten in diese Richtung laufen, dann kommt eine Tanke. Dort bekommen Sie vielleicht noch ein paar Wiener.» Ja, man kann auch mich noch in fassungslosesStaunen versetzen. Am nächsten Morgen, nach einer kurzen Nacht, begrüßte mich die verantwortliche Vertreterin der Agentur mit den Worten: «Ach, Herr Havener, Sie sind schon da. Dabei ist Ihr Auftritt doch erst in sieben Stunden.» In dem Moment fiel ich in eine tiefe Trance. Sie sehen, auch ich als alter Fuchs falle manchmal noch auf solche Sachen herein.
Ich gebe Ihnen noch ein weiteres Beispiel: Wenn ich auf Tour bin, fahren mein Team und ich natürlich viel Auto. So bleibt es nicht aus, dass wir auch mal auf Autobahnraststätten eine Toilette aufsuchen. Hier sitzt meistens eine Frau an einem Tischchen mit einem kleinen Teller, auf dem Geldstücke liegen. Auf diesen Tellern liegen aber nie Zehn- oder Zwanzigcentstücke, nein, es geht immer erst bei fünfzig Cent los. Hier wird also – ohne es auszusprechen –, darauf hingewiesen, dass einem der Besuch dieser Einrichtung doch wenigstens fünfzig Cent wert sein
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