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Denken hilft zwar, nutzt aber nichts

Denken hilft zwar, nutzt aber nichts

Titel: Denken hilft zwar, nutzt aber nichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Ariely
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waren; wir stellten fest, dass die Mehrheit der Teilnehmer betrog, und zwar nur ein kleines bisschen. * Und bevor Sie der dünnen Harvard-Luft die Schuld für dieses Maß an Unehrlichkeit geben, sollte ich hinzufügen, dass wir bei ähnlichen Experimenten am MIT, in Princeton, an der UCLA und in Yale ähnliche Ergebnisse bekamen.
    Das zweite Ergebnis ist noch beeindruckender: Das Risiko, ertappt zu werden, schien die Probanden nicht so stark zu beeinflussen, wie man meinen könnte. Als die StudentenGelegenheit zum Betrügen bekamen, ohne dass sie ihre Unterlagen vernichten konnten, erhöhten sie die Zahl der korrekten Antworten von durchschnittlich 32,6 auf 36,2. Als sie jedoch die Chance bekamen, ihre Unterlagen zu zerreißen – ihre kleine Missetat also ganz zu vertuschen –, trieben sie ihre Unehrlichkeit keineswegs auf die Spitze. Sie betrogen weiterhin im ungefähr selben Maß. Das bedeutet, dass wir, selbst wenn kein Risiko besteht, erwischt zu werden, dennoch nicht über alle Maßen unehrlich werden.
    Als die Studenten beide Blätter vernichten, in das Geldbehältnis greifen und gehen konnten, hätte jeder von ihnen vorgeben können, alle Fragen korrekt beantwortet zu haben, oder sich mehr Geld herausnehmen können (in dem Behältnis waren rund 100 Dollar). Aber niemand tat es. Warum? Irgend etwas hielt sie davon ab – etwas in ihnen. Doch was war es? Ehrlichkeit?
     
    Auf diese Frage wusste der große Ökonom und Philosoph Adam Smith eine erfreuliche Antwort: »Als die Natur den Menschen für die Gesellschaft bildete, da gab sie ihm zur Aussteuer ein ursprüngliches Verlangen mit, seinen Brüdern zu gefallen, und eine ebenso ursprüngliche Abneigung, ihnen wehe zu tun. Sie lehrte ihn Freude über deren freundliche Gesinnung und Schmerz über ihre unfreundliche Gesinnung zu empfinden«, schrieb er.
    Und er fügte hinzu: »Auch hängt der Erfolg solcher Leute beinahe immer von der Gunst und der guten Meinung ihrer Nachbarn und Standesgenossen ab, und dieser können sie selten teilhaftig werden, sofern sie sich nicht einer wenigstens halbwegs geordneten Lebensführung befleißigen. Das gute alte Sprichwort ›Ehrlichkeit ist die beste Politik‹ bewahrt also in solchen Lagen beinahe immer seine volle Wahrheit.«
    Diese Erklärung aus der Zeit der industriellen Revolution klingt plausibel, ausgewogen wie ein Satz Gewichte und harmonisch wie glatt ineinandergreifende Zahnräder. So optimistisch diese Sichtweise erscheinen mag, Smiths Theorie implizierte eine düstere Schlussfolgerung: Da die Menschen hinsichtlich Ehrlichkeit eine Kosten-Nutzen-Analyse anstellen, können sie sich ebenso per Kosten-Nutzen-Analyse für Unehrlichkeit entscheiden. Nach dieser Sichtweise sind Menschen nur in dem Maße ehrlich, wie es ihnen Nutzen bringt (zu dem auch das Wohlwollen der anderen gehört).
    Beruht die Entscheidung, sich ehrlich oder unehrlich zu verhalten, auf derselben Kosten-Nutzen-Analyse, mit deren Hilfe wir unsere Wahl zwischen verschiedenen Automarken, Käsesorten und Computerfabrikaten treffen? Ich glaube nicht. Zum einen: Können Sie sich vorstellen, dass ein Freund Ihnen seine vor dem Kauf seines neuen Laptops angestellten Überlegungen zum Kosten-Nutzen-Verhältnis mitteilt? Natürlich. Aber können Sie sich vorstellen, dass Ihr Freund Ihnen auseinandersetzt, wie seine Kosten-Nutzen-Analyse aussah, ehe er sich entschloss, einen Laptop zu stehlen? Natürlich nicht – es sei denn, Ihr Freund ist ein Gewohnheitsdieb. Vielmehr stimme ich mit anderen (von Platon bis heute) überein, die sagen, dass Ehrlichkeit etwas Größeres ist – etwas, das in nahezu jeder Gesellschaft als Tugend, als moralischer Wert betrachtet wird.
    Sigmund Freud erklärte sie folgendermaßen: Mit dem Aufwachsen in der Gesellschaft verinnerlichen wir ihre sozialen Werte. Diese Verinnerlichung führt zur Entwicklung des Über-Ich. Im Allgemeinen ist das Über-Ich zufrieden, wenn wir uns an die ethischen Grundsätze der Gesellschaft halten, und unzufrieden, wenn wir das nicht tun. Deshalb bleiben wir auch um vier Uhr nachts vor einer roten Ampel stehen, selbst wenn weit und breit niemand zu sehen ist; und deshalbdurchströmt uns ein gutes Gefühl, wenn wir dafür sorgen, dass eine Brieftasche, die wir gefunden haben, zum Eigentümer zurückkehrt, selbst wenn er nie erfährt, wer der ehrliche Finder war. Ein solches Verhalten stimuliert die Belohnungszentren in unserem Gehirn – den Nucleus accumbens und den Nucleus caudatus – und macht uns

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