Denken Mit Dem Bauch
(die emotionale
Gehirnschaltzentrale) sind nämlich grundsätzlich amoralisch.
Das bedeutet nicht etwa »unmoralisch«. Unmoralisch wäre etwas anderes, etwas moralisch Bewertendes. Amoralisch bedeutet viel mehr, Mandelkerngehirn und Bauch kennen weder Gut noch Böse, sie sind moralneutral und ignorieren die Moralwerte der Umwelt. (Dies kollidiert natürlich wieder erheblich mit der philosophischen Definition von »Intuition«…
siehe Seite 14 f.)
Nur dieser eine, spezifische, persönliche (Überlebens-)Nutzen
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für diese eine Entscheidungslage ist für den Bauch jeweils interessant, egal, welche Konsequenzen dabei für andere herauskommen. Boyd Friedman sagte, der Bauch ist einfach asozial und egoistisch, im wissenschaftlichen Sinne des Wortes.
Er nimmt keine Rücksicht auf irgendwen oder irgendetwas, nur auf sich selbst und seinen »Eigentümer« und dessen
Befindlichkeit nimmt er Rücksicht - auf niemanden sonst. So ist es die Eigenart der Bauchentscheidungen, dass sie nur dazu dienen, den Eigentümer des Bauches vor etwas zu schützen oder den Eigentümer in irgendeiner Form voranzubringen, dessen Ziele zu unterstützen und damit letztendlich das »Überleben« zu sichern (siehe auch Seite 77 ff.).
Diese Entdeckung, dass unser Bauchdenken keinem geplanten oder vorinstalliertem Moralwert-Programm folgt, sondern amoralisch ist, wirft die gesamte bisherige philosophische Intuitionstheorie über den Haufen.
Bisher (bis in die späten 1990er-Jahre hinein) gingen die Wissenschaftler (auch die Psychologen) davon aus, dass intuitive Entscheidungen allgemein gültigen Moralvorstellungen in der Regel nicht entgegenlaufen. Wurde eine unmoralische Entscheidung getroffen, also eine Entscheidung, die den Normen des sozialverträglichen Umgangs miteinander
entgegenstehen würde, dann ging man davon aus, dass eine solche Entscheidung kognitiv begleitet oder gar rein kognitiv getroffen wurde.
Das stimmt nicht.
Sie erinnern sich? Der Entscheidungsprozess der Terroristen am 11. September 2001 war eine reine Bauchentscheidung -
keine rationalkognitive Entscheidung und die Tat moralisch hochwertig. Nach unserer christlichwestlichen Moralansicht war diese Tat jedoch zutiefst unmoralisch. Nach Ansicht der strenggläubigen Muslime aus der Gruppe der Taliban wiederum war der Terrorakt moralisch verträglich, ja sogar erwünscht im Sinne des Heiligen Krieges. Für die Terroristen wiederum war
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die Reaktion der USA und der westlichen Welt zutiefst
unmoralisch. Und alle Entscheidungen waren intuitive
Bauchentscheidungen, keine Kopfentscheidungen.
Es lassen sich einige sehr markante (und bekannte)
Entscheidungssituationen finden, die man der Gruppe der typischen Bauchentscheidungen zuordnen kann. Und die waren nicht immer für alle Beteiligten moralisch gut. Immer nur für den, der aus dem Bauch heraus entschieden hatte, war die Entscheidung offenbar moralisch tragfähig. Nicht für die Betroffenen und Beteiligten. Die sahen das ganz anders, wie die folgenden Beispiele zeigen:
Siouxhäuptling Sitting Bull (Tatanka Yotanka) entschied 1876 ohne jede Kenntnis der militärischen Lage oder der gegnerischen Truppenstärke, General Custer anzugreifen. Im Nachhinein wissen wir, dass Tatanka Yotanka richtig
entschieden hatte, aus seiner Sichtweise jedenfalls. General Custer und seine Leute (besser: die paar Leute, die das Desaster überlebten) sahen das wohl ziemlich anders.
Nobelpreisträger Ernest Hemingway, ehemals Kriegs-
Berichterstatter im Nahen Osten, war ebenfalls ein Meister in Sachen Bauchentscheidungen. Er lehnte die moderne,
zivilisierte Gesellschaft mit ihren kognitiven Denkvorgängen einfach kategorisch ab. Er entschied alles aus dem Bauch heraus. Dass andere dies nicht taten, machte ihn ziemlich fertig, schreibt sein Biograf G.A. Astree. Am frühen Morgen des 2. 7.
1961 erschoss sich Hemingway, als er aus der Kneipe nach Hause kam und seine Frau Mary Welsh ihm mit irgendwelchen kognitiven Forderungen (es ging wohl um Geld und Alkohol)
»dumm« kam. Seine Frau hielt die Entscheidung des
Selbstmords für unmoralisch und der Rest der Welt war
erschrocken. Das zeigt, so der amerikanische Psychologe Astree, dass Bauchmenschen schnell zu Depressionen neigen können. Nicht etwa wegen andauernder Fehlentscheidungen -
eher im Gegenteil -, aber wegen des kognitiven Widerstands
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seitens der Umwelt. Und in der Tat: Bauchmenschen neigen eher zu Depressionen und die Suizidrate der reinen Bauchdenker liegt
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