Denken Mit Dem Bauch
schlechte Gefühl«
wird also nicht nur vom Mandelkerngehirn ausgelöst. Das
»Gefühl« für eine Entscheidungsfindung beruht auf ganz realen Erfahrungsgrundlagen dieses »Nylonstrumpfes« mit seinen Millionen von Nervenzellen. Nicht nur das Gehirn, sondern auch der Bauch speichert Erfahrungen, die ein Mensch im Lauf seines Lebens sammelt, und setzt diese dann im alltäglichen Leben um.
Das biochemische Programm des Bauchsystems ist dem des Gehirns sehr ähnlich. Zum Beispiel hat man bei Alzheimer-Patienten in deren enterischem Nervensystem die gleichen Zellveränderungsprozesse gefunden wie in deren Gehirnzellen.
Das lässt annehmen, dass die Anlage und die biochemische Struktur des Gehirnzellensystem dem des enterischen
Bauchzellensystems sehr ähnlich ist. Beide komplexen
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Zellsysteme, das Kopfsystem wie das Bauchsystem, sind an unseren vielfältigen, täglichen Entscheidungsprozessen beteiligt.
Die rein emotionalen, rein intuitiven Entscheidungen allerdings trifft der Bauch weitgehend allein. Er informiert das Gehirn sozusagen: »Ich hab da 'ne Entscheidung getroffen, nimm sie mal zur Kenntnis«,… mehr nicht. Intuition sitzt eben, wie erwähnt, im Wesentlichen im Bauch und nicht allein im
Mandelkerngehirn, wie wir noch vor ein paar Jahren dachten.
Und es geht noch weiter: Tatsache ist, dass wir zu rein rationalen Entscheidungen gar nicht fähig sind. Unser Hirn wäre heillos überfordert, wenn es in kürzester Zeit alle Informationen besorgen, bewerten und dann rein »kognitiv« entscheiden müsste (siehe auch Seite 37 f.). Deshalb greift das Gehirn auf das Ur-Programm des Bauches zurück, das ihm
Denkabkürzungen - so genannte »mental shortcuts« - liefert.
Wie der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer am Max-
Planck-Institut in Berlin herausfand, wählen wir in diesen Entscheidungsmomenten immer diejenige Entscheidungs-Variante, die uns am vertrautesten, am bekanntesten erscheint.
Gerade wenn die messbare Faktenlage einer anstehenden
Entscheidung sehr dünn bis überaus mager ist, vergleicht das enterische Nervensystem ganz besonders, welche Erfahrungs-Werte gleicher oder ähnlicher Situationen wir haben - und trifft dann diese »Bauchentscheidungen«. Aus diesem typischen Verhalten des Bauchnervensystems lässt sich eine Regel ableiten:
Je weniger wir auf kognitive Fakten zurückgreifen können, auf messbare Informationen, Zahlen, Daten, Beweise oder logische Schlüsse - umso eher kommt die Entscheidungs-Vorbereitung aus dem enterischen Nervensystem. Verfügen wir bei einer anstehenden Entscheidung über null Faktenwissen dann kommt die Entscheidung zu 100% aus dem Bauch. Und was dabei herauskommt, ist schon sehr bemerkenswert. Gerd Gigerenzer: »Es liegt häufig die Weisheit im Nichtwissen.«
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In der Tat lässt es sich recht einfach beweisen, dass
Nichtwissen oder Unkenntnis über eine Sache, einen
Zusammenhang oder einen Zustand nicht zwangsläufig dazu führt, dass eine Fehlentscheidung getroffen würde. Das gilt nicht nur für die emotional so stark besetzten Bereiche wie Liebe, Familie, Partnerschaft oder Jobsuche. Auch im Business gilt die gleiche Regel: Der Bauch entscheidet oft schnell und meist sicher.
Aber manchmal liegt der Bauch auch ziemlich daneben. Der ntv-Börsenexperte Markus Koch meint, dass rund 70% aller Börsengeschäfte aus dem Bauch heraus entschieden werden und nicht aufgrund messbarer, überprüfbarer Fakten. Hätten die Anleger im Frühjahr 2001 die neuen Märkte, die Startups und E-Commerce-Firmen kritisch nach messbaren Fakten hinterfragt, bevor sie in diese Aktienwerte eingestiegen sind, hätte es ganz andere Entscheidungen gegeben und so manchem Anleger wäre der Totalverlust im Jahr 2001 erspart geblieben. Hier unterlag der Bauch offenbar einer gewissen kollektiven Euphorie, und zwar weltweit und interkulturell.
Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Nach dem
Terroranschlag vom 11. September 2001 fielen die Aktien der Fluggesellschaften ins Bodenlose. Die US-Airlines, die Swissair, die belgische Sabena, die bundesdeutsche LTU und auch andere Fluggesellschaften kamen wirtschaftlich furchtbar ins Trudeln. Dabei war das rein messbare, das faktische Risiko, in ein Flugzeug zu steigen und darin zu verunglücken, nun keineswegs höher als vor dem Anschlag - eher war das Risiko deutlich gesunken. Denn alle Fluggesellschaften der Welt erhöhten augenblicklich ihre Sicherheitsstandards um ein Etliches. Aber unsere menschliche Intuition signalisierte
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