Denken Mit Dem Bauch
beurteilen.
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Diese Fähigkeit scheinen wir nicht (mehr) zu besitzen.
Wahrscheinlich haben wir sie einmal besessen, vor einigen Hunderttausend Jahren - und zwar dort nur für einen ganz kurzen Zeitraum von etwa 30000 Jahren, sagen die
Wissenschaftler. Damals muss es so gewesen sein, dass die regionale Welt, in der die Menschen lebten, so überschaubar war, dass sie über alles Wichtige in der zugehörigen Sippe oder sozialen Gruppe informiert waren. Dann kamen andere Gruppen hinzu, andere soziale Geflechte - und aus war es mit der Kognition und der Überschaubarkeit. Die Komplexität unserer heutigen Welt lässt die Menge der für uns verwertbaren Fakten (das, was wir von den Dingen noch verstehen und überblicken) bei unseren Entscheidungen häufig auf ein Minimum reduziert erscheinen. Vielen Menschen macht das Angst.
Bauchgefühl im Business
Wir scheuen uns dennoch nicht, die allerbesten, sozial vollwertigen Szenarien unserer Welt aufzumalen und
»auszumalen«. Zum Beispiel finden wir unter den sozial erwünschten Welt-Szenarien Behauptungen wieder, die allen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen massiv widersprechen.
Wenn wir uns das Berufsleben der Menschen in den
Industriestaaten anschauen, fallen diese Irrtüme r ganz besonders auf.
Die nachfolgenden Irrtumsformulierungen stammen aus dem Firmenexpose eines bundesdeutschen New-Economy-Unternehmens, das ins Trudeln kam und heute pleite ist.
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1. Berufsleben-Irrtum:
Das Unternehmen von morgen ist das moderne, menschliche, vernetzte Unternehmen. Es erkennt frühzeitig alle
Veränderungen am Markt und reagiert richtig und just in time.
Es geht mit Menschen menschlich um und fördert die Vielfalt, den Teamgeist und das Engagement aller Beteiligten.
Gleichzeitig arbeitet es mit anderen Unternehmen in virtuellen Netzwerken eng und partnerschaftlich zusammen.
Insbesondere in komplexen Geschehen treten Konflikte und Stress auf. Doch wir Menschen gehen in Konfliktsituationen und unter Stresseinwirkung nicht partnerschaftlich miteinander um, sondern wir rivalisieren, wenn es sein muss, bis zur
psychischen, sozialen oder gar physischen Vernichtung des anderen. Wir greifen dann auf unser Ur-Programm zurück und verbinden das Überlebens-Ur-Programm mit unserem jeweiligen Typ-Programm - und danach entscheidet der Bauch die Dinge, die zur Entscheidung anstehen. Da hat dann der Kopf meist nicht mehr viel zu bestellen. Unter massiver Stresseinwirkung verstärkt sich dieser unangenehme Effekt noch. Das Gefühl, in einer rivalisierenden Situation Prestige oder Anerkennung zu verlieren, die eigene Position in der Gruppe (der kleinen Öffentlichkeit) zu gefährden oder gar darin unterzugehen, macht uns panische Angst.
Wir folgen einem Ur-Bauchprogramm, dass uns jetzt ganz klar sagt: Entweder du oder ich - und im Zweifel immer ICH.
Um das oben beschriebene partnerschaftliche Unternehmen in menschlicher Wärme und humaner Ausprägung zu erreichen, wäre es nötig, das ganz persönliche Ur-Rivalitätsprogramm der beteiligten Menschen positiv in den Griff zu bekommen.
Das allerdings wird so schnell nicht gelingen. Zwar arbeiten ganze Branchen daran (meine Psychobranche auch), den
Unternehmen und Unternehmern beizubringen, dass emotionaler Krieg im Unternehmen unsinnig ist. Ein Heer von so genannten und selbst ernannten »Trainern« lebt davon. Aber der Erfolg
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zeigt sich immer nur für eine kurze Zeit und nur in kleinsten Schritten. Dabei werden die tatsächlichen emotionalen
Rivalitäten in einem Unternehmen nicht etwa beseitigt oder eingedämmt. Sie werden meistens nur mit vordergründiger Friedfertigkeit maskiert und kosmetisch bearbeitet. Beim nächsten Konflikt kracht es wieder, die Maske fällt und der Bauch spricht eine eindeutig rivalisierende Sprache. Die Psychotrainer kümmert das nicht weiter. Sie haben ihr Geld und sind längst weg.
In den Zeiten von »Friede-Freude-Eierkuchen« ist es wahrlich kein Kunststück, den Bauch in die Ecke zu stellen und
anständig, fair, weitsichtig, human, vernünftig, menschlich und so weiter… miteinander umzugehen, denn wir haben keinen Stress. Keine erhöhte Impulsdichte, keinen eingeschränkten Handlungsspielraum, keine Wertebedrohung - nichts Böses ist in Sicht. Aber was passiert in Krisenzeiten? Und die haben wir, mehrmals täglich. Gäbe es in Unternehmen eine Krisenbimmel, würde sie vermutlich von morgens bis abends ununterbrochen läuten.
Damit der Bauch endlich die Klappe hielte, müsste
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