Denkwürdigkeiten aus meinem Leben [microform]
Geschmackes oft lieber gesehen werden als die Erzeugnisse neuerer Zeit. So bewegte sich die gesellige Welt, geistig angeregt, aufs lebhafteste und genügendste in stetem Wechsel der Leistungen und Empfängnisse, und mitten in diesem freudigen Trei-
ben der Geister wuchs ich empor und trat in die Peri-ode, wo das Kind zur Jungfrau entblüht, das Herz zu fühlen, der Geist mit klarem Bewußtsein um sich zu blicken vermag.
Ich hörte und sah vieles, was von meinen früheren Ideen sehr abstach. Ich war religiös erzogen, und alle von der Kirche vorgeschriebenen Gebräuche waren bis zu jener Zeit im Hause sowohl als auch von mir be-obachtet worden. Allmählich aber drang die neue Gesinnung auch bei uns ein. Gar manche der Freunde, die unser Haus besuchten und übrigens achtungswerte Menschen waren, dachten über die Religion sehr frei. — Nicht allein, daß sie sich in ihrem Herzen von jeder positiven Satzung losmachten und eigentliche Deisten, oft nicht einmal dies, sondern Materialisten und Athe-isten waren, gab es auch viele unter ihnen, die unbe-sonnen genug waren, diese Gesinnung-ungescheut im Gespräche laut werden zu lassen, sich von allen äußer-lichen Beobachtungen der Religion, allen Vorschriften der Kirche los zu machen und in philosophischer Ruhe bequem dahin zu leben. Diese Gesinnungen, diese Beispiele sah ich täglich vor mir, und obwohl sie mich wohl zuweilen durch ihre Grellheit verletzten, so drang doch einiges davon auch in meinen Geist ein, erregte mir Zweifel, Unsicherheit und erkältete auf jeden Fall mein Gefühl. —
Gottes Gnade war es, deren Walten über mir ich recht sichtbar erkenne, wenn ich der Entwicklung meines Geistes und den Einwirkungen, die er von Zeit zu Zeit erhielt, nachsinne, daß Haschka, welcher, wie schon gemeldet, bei uns wohnte und sich meiner geisti-gen Ausbildung eifrig annahm, mir (vielleicht durch-aus nur aus ästhetischen Rücksichten) die Noachide^^^),
Miltons verlornes Paradies ^*^), die Insel vom Gra-fen Stolberg^*^) u. dgl. zu lesen gab und, um mein von Natur glückliches Gedächtnis durch Übung zu stärken, zuerst alle Fabeln und Erzählungen von Gel-iert, Hagedorn, Lichtwer^*^), dann aber auch die geist-lichen Lieder des ersten sowohl als anderer Dichter auswendig lernen ließ. In jenen geistlichen Epopöen erschienen mir die Gottheit, die Engel wieder in dem würdigen hohen Licht, worin ich sie im gesellschaft-lichen Leben gar nicht oder höchst selten betrachtet sah, und mein Herz ergriff eifrig diese durch die Phan-tasie ihm dargebotenen Vorstellungen, welche mit dem tiefsten Grunde meiner Seele so wohl zusammen-stimmten. Ich behielt die schönsten von Gellerts Liedern auswendig (ich weiß sie noch jetzt großenteils), bediente mich seines Morgen- und Abendliedes ^*^) zu meiner täglichen Andacht und hielt mir viele seiner frommen Sprüche gegenwärtig, so z. B. das schöne Lied: Du klagst und fühlest die Beschwerden des Standes, worin du dürftig lebst^^^), in welchem wirk-lich ein Schatz von Erfahrung und Trost für jeden liegt; so endlich aus einem andern die Stelle: Denk an den Tod in frohen Tagen, kann deine Lust sein Bild vertragen, so ist sie gut und unschuldsvoll ^*^). Wohl sprang ich freudig und mutig auf keinem Ball herum, ohne mir nicht mehr als einmal während des Abends jenen Vers des frommen Mannes zurückzu-rufen und die Reinheit meines Genusses an diesem Prüfstein zu untersuchen. Gott sei Dank! ich fühlte nie Schrecken oder Angst bei dem Gedanken an einen möglichen nahen Tod.
Aus jenen Epopöen ging noch eine Vorstellung le-bendig in meine Seele über — die der Engel und mei-
lies Schutzengels insbesondere. Meine Religionsbe-griffe stimmten gar wohl damit überein, und so erkor ich mir den Engel Ithuriel, der im Milton vorkommt, wo er den Satan als Kröte am Ohr der Eva entdeckt und ihn, mit seinem Speere berührend, zur Entdeckung und Flucht zwingti*^), zu meinem Schutzengel oder vielmehr ich gab dem Geiste, dessen Schutz mich der Schöpfer bei meiner Geburt übergeben, diesen Na-men. Dann erkor ich mir einen der schönsten Fix-sterne — (späterhin erfuhr ich, daß es die, fast im Ze-nith stehende Lyra ist), in welchem ich mir Ithuriels Residenz dachte. Um aber auch ein deutliches Bild von ihm in meiner Phantasie zu bewahren, wählte ich mir einen überaus schönen Engel in Jünglingsgestalt, der auf einem Bilde in unserer Dorfkirche (zu Hernais, wo meine Eltern jeden Sommer zubrachten) der hei-ligen Barbara den Palmzweig aus den
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