Denn am Sabbat sollst du ruhen
zum ersten Mal wieder gesehen.
Warum ihr der Junge dann vom Friedhof bis zur Praxis und von dort zu Neidorfs Haus und anschließend zu ihrem eigenen Haus gefolgt sei?
Ihr Gesicht wurde aschfahl. Heiser fragte sie: »Sind Sie sicher?«
Er nickte und fragte, was er nach der Beerdigung zu ihr gesagt habe.
»Er sagte, er müsse sich mit mir treffen. Ich habe ihm erklärt, daß ich nur Privatpatienten habe und ihn daher nicht annehmen könne. Es ist unserer Ansicht nach unmoralisch, wenn der Therapeut Patienten privat akzeptiert, die er im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens behandelt hat. Ich habe ihn wieder an die Klinik verwiesen.«
Michael spürte, daß sie etwas vor ihm verbarg und fragte, ob sie sich vor Elischa Naveh fürchte.
Nach kurzem Nachdenken antwortete sie, daß sie sich nicht fürchte, er sei niemals gewalttätig gewesen, trotzdem wisse sie nicht, wie sie sein Verhalten interpretieren solle.
»Hat er möglicherweise Kontakt mit Eva Neidorf gehabt?« Dina Silber schüttelte verneinend den Kopf. »Unwahrscheinlich. Sie hätte ihn nicht zur Behandlung angenommen, sie hatte keine Zeit. Auch ansonsten gab es keine Berührungspunkte. Das hätte er mir mitgeteilt.« Auf Michaels Frage in väterlichem Ton, ob sie sich vor etwas fürchte, sagte sie, daß sie seit dem Geschehen am Sabbat sehr empfindlich sei. Alles versetze sie in Schrecken, aber dieser Schrecken habe keine rationale Ursache. »Das gehört zur Reaktion auf Dr. Neidorfs Tod und vergeht sicherlich.« Sie versuchte zu lächeln. Nach einer kleinen Weile behauptete sie, daß sie sich um den Jungen Sorgen mache. »Vielleicht wäre es klüger, ihn jetzt nicht zu verhören und zu warten, bis er ruhiger ist.«
Michael fragte erneut nach ihrer Beziehung zu Eva Neidorf, und wieder sagte sie, daß sie in ihrer Schuld stehe und daß sie viel von ihr gelernt habe. Ihre Worte klangen vollkommen hohl, keinerlei Empfindung begleitete sie, nicht einmal eine Empfindung, wie sie in Linders Worten gelegen hatte. Sie klang wie ein Tonband, als wiederhole sie Auswendiggelerntes.
»Ist es wahr, daß die Verstorbene kühl und distanziert gewesen ist?«
Nein, davon habe sie nie etwas gespürt. »Wir haben einander eigentlich sehr nahe gestanden und voll vertraut. Eva Neidorf war einfach eine verschlossene und introvertierte Frau, aber sie war nicht kalt.«
Und dann fragte er sie nach ihrer Begegnung mit Hildesheimer, am Sonntagnachmittag vor seinem Haus.
Sie blickte ihn bestürzt an, fragte aber nicht, woher er davon wisse, und versuchte auch nicht auszuweichen, sondern sagte nach kurzem Bedenken, daß Hildesheimer ihr Analytiker gewesen sei.
»Wie lange?« Die Analyse sei vor anderthalb Jahren abgeschlossen worden, entgegnete sie, und habe annähernd fünf Jahre gedauert. Sie habe ihn zufällig auf der Straße getroffen, als sie unterwegs war, um eine Zeitung zu kaufen.
Warum sie dann so lange vor dem Haus hin- und hergegangen sei, erkundigte sich Michael, und diesmal fragte sie, woher er das wisse, sie unterbrach sich selbst, und wieder erschien ihr gequältes Lächeln. Sie wolle hier nicht darlegen, wie schwer ihre Lage sei, daher habe sie verschwiegen, daß sie vor seinem Haus auf ihn gewartet hatte. Sie wollte ihn dringend sprechen, sie brauchte ein Gespräch, und er hätte dem am Telefon niemals zugestimmt. Sie wollte ihn sofort in sein Zimmer begleiten, aber er erwartete einen Patienten und konnte sich auch für den folgenden Tag nicht frei machen, wegen der Beerdigung. Er habe erst in der kommenden Woche Zeit für sie.
Michael sah auf die Uhr, die bereits halb zwölf zeigte. Dina Silber begann schon ihren Mantel zuzuknöpfen, als er sie fragte, ob sie von Joe Linders Revolver gewußt habe.
»Was meinen Sie damit?«
»Wußten Sie, daß er einen Revolver besitzt?« Michael verschwieg mit Bedacht, daß der Revolver, mit dem Eva Neidorf erschossen worden war, Linder gehörte, und er fragte sich, ob Linder selbst es ihr gesagt hatte.
Sicher wußte sie von der Waffe. »Wer wußte es nicht?« fragte sie und zeigte wieder ihr totes Lächeln. »Joe hat ununterbrochen davon erzählt.« Michael entging die überlegte Wortwahl nicht, und er fragte nach ihrer Beziehung zu Linder und seiner Familie.
»Schauen Sie, das sind sehr komplexe Beziehungen. Es bestand eine starke Konkurrenzsituation, als ich bei ihm und Dr. Neidorf zur Supervision war. Vorher hatten wir eine einfache, freundschaftliche Beziehung. Ich weiß nicht, ob Sie bemerkt haben, wie wichtig
Weitere Kostenlose Bücher