Denn am Sabbat sollst du ruhen
wöchentlich stattfindet, kann den Weg zu den Schlüsselerlebnissen der Persönlichkeit öffnen und eine neue Auseinandersetzung mit ihnen ermöglichen.«
Eine ganze Minute verging, bis Michael eine neue Frage stellte: »Kann die Übertragung so weit gehen, kann der Haß des Patienten so stark werden, daß er den Therapeuten ermorden könnte?«
Hildesheimer zündete seine Pfeife von neuem an und sagte: »Selbst bei schwersten Fällen, die in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrischen Klinik sitzen, ist das so gut wie ausgeschlossen. Trotzdem ist die Analyse für verhältnis mäßig gesunde Menschen bestimmt, für Neurotiker näm lich. Der Analysepatient kann sich mit Mordphantasien tragen, aber ich habe noch nichts von einem tatsächlichen Mordversuch gehört. In der Realität würde ein Patient eher sich selbst etwas antun als dem Therapeuten.« Er zog an seiner Pfeife und fügte hinzu: »Und Sie müssen bedenken, daß die meisten Patienten von Eva Neidorf Kandidaten des Instituts waren, da es nur sehr wenige Lehranalytiker gibt. Sie hatte kaum Patienten, die nicht zum Institut gehörten.«
»Wäre es nicht denkbar, daß ein Analytiker Dinge erfährt, die dem Patienten Schwierigkeiten bereiten können, Informationen, die ihn belasten und geheim bleiben müssen? Und daß sich der Patient dem Analytiker ausgeliefert fühlt?« Hildesheimer schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er: »Ge nau dies ist das Thema der Vorlesung gewesen, die Eva am Morgen hatte halten wollen.«
»Moment«, bat Michael. »Ich muß noch ein wenig über Eva Neidorf wissen, bevor wir über den Vortrag sprechen.« »Was wollen Sie wissen?« fragte Hildesheimer und leerte seine Pfeife in den Porzellanaschenbecher.
»Wie kam sie ins Institut? Und was hat sie vorher gemacht?« Michael zündete sich eine Zigarette an. Er bemerkte eine innere Anspannung, die er sich nicht erklären konnte.
»Eva hat jahrelang als Psychologin im öffentlichen Gesundheitsdienst gearbeitet. Zum Institut kam sie in verhältnismäßig fortgeschrittenem Alter. Ein Bewerber darf nicht älter als siebenunddreißig sein, und sie war damals sechsunddreißig. Ihre außerordentliche Begabung war von Anfang an offensichtlich. Sie wurde Mitglied der Ausbildungskommission und vor sechs Jahren dann auch Lehranalytikerin. Ich bin davon ausgegangen, daß sie meinen Posten als Vorsitzender der Ausbildungskommission übernehmen würde. Eigentlich hatte ich vor, nächsten Monat zurückzutreten. Eva wäre sicherlich gewählt worden.«
Michael erkundigte sich nach ihrer familiären Situation. »Sie war verheiratet«, sagte der Alte, »mit einem Geschäftsmann, der ihre Arbeit nicht besonders geschätzt hat, der nicht einmal begriff, welche Karriere seine Frau da machte. Das war nicht einfach für sie. Sie wollte die Familie zusammenhalten und kämpfte doch gleichzeitig um ihre Rechte; der Mann wollte, daß sie überhaupt nicht arbeitete. Am Ende aber hat ihr Mann doch ihre Selbständigkeit schätzen gelernt. Ihre Beziehung ist sehr eng gewesen«, sagte er mit einem Anflug von Bedauern. »Sie war meine Patientin, später wurde sie meine Kollegin, und auch mehr als das. Ihr Mann, der einige Jahre älter als sie gewesen war, starb vor drei Jahren. Es war ein plötzlicher Tod, ein Schlaganfall während einer Geschäftsreise auf dem Flughafen von New York. Sie mußte dorthin reisen und die Leiche zurückfliegen lassen. Es war eine schwere Prüfung für sie und die Kinder. Anschließend gab es Probleme mit der Hinterlassenschaft ihres Mannes, denn sie hatte sich nie für seine zahlreichen Geschäfte interessiert. Ihr Sohn hatte diesen Naturschutztick; er ist nett, intelligent, aber absolut nicht an Geschäften interessiert. Schließlich kümmerte sich ihr Schwiegersohn um diese Angelegenheiten. Und das«, sagte Hildesheimer seufzend, »war für alle eine Erleichterung.«
Michael fragte nach dem Verhältnis zwischen ihr und den Kindern.
Mit sorgfältig gewählten Worten entgegnete Hildesheimer, daß die Beziehung zu ihrer Tochter sehr eng gewesen sei. Ihm sei sie zuweilen zu eng vorgekommen. Er habe immer den Eindruck gehabt, daß Eva, was die Kinder anging, unter einer Art Verblendung litt. »Nava, die Tochter, konnte sich kaum von ihr lösen, sie war unselbständig gewesen und hatte nichts getan, ohne sich mit der Mutter zu beraten. Aber seit sie mit ihrem Mann nach Chicago gezogen war, hat sich eine Wende zum Guten vollzogen. Mit dem Sohn war es noch komplizierter gewesen, sie hatten
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