Denn bittersüß ist der Schnee - Lene Beckers dritter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
machte das Leben so viel besser. Aber so müssen wir weiter im Trüben fischen. Dann wanderten ihre Gedanken weiter zu Matthias-Matthew. Er war damals in dieser Liebe gerade mal ein Jahr älter als Sven heute. Oder die Kids, die sie in Hinterglemm zurückgelassen hatte. Ein Jahr. Sie sah ihn plötzlich vor sich:
Die verkrampfte Figur
kniet im Schnee
und faltet die Hände
Himmel, Verlorensein, Wölfe und Wildnis
Und wie war das dann? Die Kerze im Schnee
Sie war sich sicher, dass sie an jedem Heiligen Abend ab jetzt an diese F igur, diesen einsamen Jungen im Schnee denken würde.
Nein, sie hatte wirklich keine Lust, so einem Menschen einen Mord zu unte rstellen. Diesem Menschen. Gott, bitte mach, dass er es nicht war, wandte sie sich dabei an den Himmel.
Aber ein Motiv hatte er, wenn auch ein eher dünnes. Vor allem war er der Letzte, der bei Melanie Merthens gewesen war, sie lebend gesehen hatte. Ha tte er sie auch tot gesehen? Sie versuchte sich die Szene vorzustellen. Die Teetassen auf dem Tisch, Melanie am Fenster auf ihn wartend. Draußen fällt dicht der erste Schnee. Trägt auch sie dies Bild in sich, wenn es schneit? Von dem Jungen kniend im Schnee? Nach vierzig Jahren. Aufgeregt, weil sie ihn wiedersehen würde.
Warum nur könnte der Mann einen Grund, gehabt haben, zum Kerze nständer zu greifen im Zorn. Woran könnte eine solche Wut sich entzünden, sich aufbauen? Ihr fiel nichts ein.
Inzwischen hatte es wieder angefangen zu schneien. Zarte, dichte Flocken. Sie verlangsamte ihr Tempo und kehrte zu ihren Gedanken zurück.
Dann gab es noch die Frau. Seine Frau. Jessica. Wohlhabend, verwöhnt. Und die sich auf den Weg gemacht hat, als ob sie etwas ahnte. Kanada – Deutschland. Vancouver – München. Ihre Ankunft in Deutschland gerade an dem Tag als Überraschung, an dem die frühere Geliebte ihres Mannes ermordet wird? Direkt nach deren Wiedersehen mit ihm? Waren sie immer noch Liebende? War es ihre weibliche Intuition, die sie herüberfliegen ließ? Denn woher hätte sie es wissen sollen?
Lenes Gedanken reisten zurück in der Zeit zu einer Geschichte i hrer Großmutter Elise, die sie tief beeindruckt hatte, als sie sie damals das erste Mal gehört hatte.
Elise war mitten in der Nacht um vier Uhr aufgewacht. Mit rasendem Herzklopfen und dem inneren Wissen, dass ihre Tochter Magda schwer krank geworden war. Ma gda, damals zwölf Jahre alt, war im Internat in Würzburg, etwa achtzig Kilometer entfernt, da es auf dem Land kein Gymnasium gab. Sie hätte nicht sagen können, woher sie es wusste, aber in der Gewissheit, dass es so war, stand sie bald darauf auf, zog sich an und ging kurz nach fünf zum Bahnhof, wo sie auf den ersten Zug wartete. Gegen sieben kam sie in Würzburg an. Da kein Taxi zu sehen war, rannte sie fast die zwanzig Minuten zur Schule, kam dort völlig außer Atem an, in tiefer Angst, dass es zu spät sein könnte. Als sie an der Pforte klingelte, sah die Schwester, wie sich die Nonnen der Ursulinen nannten, sie erstaunt an und rief sofort die Oberin. Die wirkte blass und erschöpft, jedoch zugleich erleichtert, als sie Elise sah. Sie teilte ihr mit, dass sie ihr vorhin bereits ein Telegramm geschickt hätte, da ihre Tochter Magda so schwer erkrankt sei. Sie, Elise, sollte sich auf das Schlimmste gefasst machen. Der Arzt sei schon bei Magda. Auch der Priester hätte ihr schon die letzte Ölung gegeben.
Elise ließ sich zu ihrer Tochter bringen. Das Kind fieberte, das sah sie gleich. Fast aufgequollen und glühend heiß lag Magda ohne Bewusstsein in ihrem schmalen Bett, eine Flut brauner Haare rahmte das rote Gesicht ein. » Wir haben alles versucht, das Fieber geht nicht runter « , sagte die Schwester auf der Krankenstation. Der Arzt hatte eine schwere Lungen- und Rippenfellentzündung diagnostiziert – und das in der Zeit vor Penicillin und Antibiotikum, als Kinder an Lungenentzündung oftmals starben! - und war gerade dabei, sie ins Krankenhaus bringen zu lassen. Dort blieb Elise bei ihrer Tochter. Pflegte und behütete sie und schlief bei ihr. Endlich nach zwei Tagen kam Magda zu Bewusstsein, das Fieber fiel, und sie wurde wieder gesund.
So viel zu weiblicher Intuition. Es konnte also sein.
Sie musste Matthew morgen fragen, wie leicht es für Jessica Shiller gew esen sein könnte, an seine E-Mails heranzukommen? Wie und wann war es zur Planung der Reise nach Deutschland gekommen, wann war sowohl seine Buchung als auch ihre gemacht worden? Wann genau hatte er sich bei Melanie
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