Denn das Glueck ist eine Reise
Niemand würde ihn in ein Altenheim stecken.
Als er jetzt in seinem gelbgrauen Zimmer im Hôtel du Centre saß und auf den alten Koffer schaute, den er noch nicht ausgepackt hatte, dachte er voller Traurigkeit, dass dies wohl gar nicht mehr so sicher war.
Er hatte sich vorgestellt, dass niemand etwas von seinen Plänen erfahren und niemand sie durchkreuzen würde, und jetzt war alles aufgeflogen. Drei Tage lang hatte er sich viel besser gefühlt, fast wie der, der er früher einmal gewesen war, und jetzt wurde er wieder zum alten Großvater mit seinen Schmerzen, der nichts machen durfte, um sich nicht unnötig anzustrengen und um nicht noch gebrechlicher zu werden. Doch er war selbst schuld: Er hatte das Mitgefühl der anderen immer als sehr angenehm empfunden. Sicher, dieses Mitgefühl hatte nie seine Schmerzen gelindert, aber es hatte zumindest die in ihm aufkeimende Hoffnungslosigkeit vertrieben. Jetzt aber brauchte er Freiheit, und er stellte ohne große Überraschung fest, dass man ihm sie nicht mehr zugestand. Georges dachte an Adèle. Würde sie es ihrer Mutter sagen? Bestimmt, denn sie hatte an dem ersten Abend mit Sicherheit angerufen, um ihn zu überwachen. Und natürlich hatte sie ihn auf frischer Tat ertappt. Georges hätte gerne mit Charles über alles gesprochen, doch dazu fehlte ihm der Mut. Er lag in diesem gelbgrauen Zimmer wie festgenagelt auf dem Bett.
Als das Telefon klingelte, schrak er zusammen.
»Opa?«
»Ja ...«
»Ah, du hast dein Handy also bei dir.«
»Ja, ja«, erwiderte Georges müde.
»Weißt du, wie man eine SMS schreibt?«
»...«
»Das sind diese Nachrichten, die man über das Handy verschickt.«
»Ja, ja, ich verstehe schon, die SMS ... Aber wie man sie verschickt, also das, meine liebe Adèle ...«
»Okay, dann frag Charles oder jemanden an der Hotelrezeption. Sie zeigen es dir bestimmt.«
»Aber warum willst du denn, dass ich SMS schreibe?«
»Weil du mir jeden Tag eine schicken wirst«, erklärte Adèle ihm in bestimmtem, doch auch ein wenig komplizenhaftem Ton.
Georges schöpfte Hoffnung. Sie hatte Françoise noch mit keinem Wort erwähnt.
»Jeden Abend, Opa, schickst du mir eine SMS, um mir erstens zu sagen, wie es dir geht, und zweitens, wo ihr seid.«
»Also, wie es mir geht und wo wir sind. Einverstanden.«
»Jeden Abend, okay? Wenn ich einen Abend keine bekomme, rufe ich Mama an und fahre sofort los und suche dich. Okay?«
»Okay. Das geht in Ordnung. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich schicke dir jeden Abend eine. Heute Abend auch?«
»Ja, heute Abend auch, nur zum Test. Es ist egal, um wie viel Uhr du sie schickst. Ich muss eh die ganze Nacht arbeiten.«
»Gut, einverstanden. Ist das dann alles?«
»Ja, aber du passt gut auf dich auf, Opa, ja?«
»Ja, mein Kind. Gut. Tschüs.«
Er legte auf, ehe Adèle etwas antworten konnte, und eilte zu Charles’ Zimmer.
»Charles, mein Freund. Die Tour braucht dich!«
Adèle war allein am dunklen, vollgestellten Set. Sie erholte sich mehr recht als schlecht von ihrem Gefühlschaos. Dieser Trick mit der Rufumleitung. Die recht kläglichen Bemühungen ihres Großvaters, ihr eine Komödie vorzuspielen. Dann der Unfall. Und jetzt die Tour de France. Und sie hatte geglaubt, ihr Großvater würde friedlich in seinem Sessel sitzen! Würde sein Herz das alles aushalten? Wäre es nicht besser gewesen, ihre Mutter anzurufen und ihrem Großvater einfach zu sagen, dass er nach Hause zurückkehren sollte? Françoise hatte klipp und klar gesagt, sie wolle zwei Monate lang nicht gestört werden, es sei denn, es handele sich um einen absoluten Notfall. Handelte es sich um einen absoluten Notfall, wenn ihr Großvater Frankreichs Straßen unsicher machte? Nein, wahrscheinlich nicht. Adèle erinnerte sich, wie er früher während der Tour de France ständig vor dem Fernseher hing. Sie war noch klein, doch sie wusste noch, wie laut die Männer zu Hause dann immer sprachen. Sicher, ihr Großvater war zwar alt und krank, letztendlich aber selbst für sein Handeln verantwortlich. Er war kein Kind. Und dennoch behandelte sie ihn wie ein Kind, das seine Eltern regelmäßig anrufen musste, damit sie sich keine Sorgen machten. Eine komplizierte Sache! Adèle bedauerte schon, sich eingemischt zu haben. Und dabei hatte sie sich so lange Zeit so wenig um ihre Großeltern gekümmert ...
Die vertrauten Geräusche der Dreharbeiten holten sie in die Realität zurück, wenn man das überhaupt als Realität bezeichnen konnte.
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