Denn das Glueck ist eine Reise
Es war das allererste Mal, dass es jemand beeindruckend fand. Er konnte nicht umhin hinzuzufügen: »Dreitausendfünfhundert«, doch er bereute es sofort.
Adèle versuchte, sich vorzustellen, was ihre Mutter dazu sagen würde.
»Und die Ärzte? Hast du deinen Arzt gefragt? Was hat er gesagt?«
»Pah, hör mir mit den Ärzten auf. Die haben doch alle keine Ahnung.«
»Du bist aber nicht allein? Es weiß doch wenigstens jemand Bescheid?«
»Charles ist bei mir, und seine ganze Familie weiß Bescheid. Sie haben ihn sogar dazu ermuntert«, sagte Georges und kicherte kaum hörbar.
»Hm ... Opa, aber warum macht ihr denn die Tour de France?«
»Weil wir Lust dazu haben.«
Diese schlichte Antwort überraschte Adèle. Sie war rührend und sogar zärtlich. Und vor allem bewies sie, dass ihr Großvater auch ein Mensch war, alterslos, fast so wie sie, wie alle Menschen, mit dieser Lust, sich einmal etwas anderes anzusehen. Einfach so.
»Es ist also abgemacht. Kein Wort zu deiner Mutter.«
Adèle fiel alles wieder ein, die Tabletten, die schwindende Sehkraft, das Rheuma und die Klischees über das Alter.
»Opa, ich weiß nicht, du weißt doch, Mama ... Das ist trotzdem ein Risiko für deine Gesundheit, was du da machst«, sagte sie schließlich ein wenig gereizt.
»Adèle, noch bin ich nicht tot.«
»Ja, gut, ich muss Schluss machen, Opa. Ich ... ich ruf dich später noch mal an.«
Es war fast Mitternacht. Drei Stunden später als geplant erreichten Georges und Charles endlich das Hôtel du Centre in Brest. Dieser Unfall hatte sie schrecklich mitgenommen, doch es hätte viel schlimmer ausgehen können. Das, was geschehen war, war so unerwartet, so sonderbar und so unwirklich, dass es sie vollkommen aus dem Konzept gebracht hatte. Fast bedauerten sie es, überhaupt zur Tour de France aufgebrochen zu sein. Die erste Etappe könnte schon die letzte gewesen sein. Und trotzdem – das Abenteuer hatte doch so gut begonnen ... vor allem für Georges.
Georges und Ginette hatten sich ausgezeichnet verstanden. Das war selbst Charles aufgefallen, und der hatte für sogenannte zwischenmenschliche Dinge keine besonders guten Antennen. Sie ließen sich so viel Zeit in Notre-Dame-de-Monts, dass der Zwischenstopp in Gâvres ganz einfach vom Reiseplan gestrichen wurde − und die Cousine gleich dazu. Charles weigerte sich zuerst, sie anzurufen und ihr eine fadenscheinige Ausrede aufzutischen, aber schließlich hatte er klein beigegeben, wie ein verlegener Jugendlicher. Die drei Freunde aßen noch einmal gemeinsam auf Ginettes Terrasse, und es schmeckte wieder ausgezeichnet. Als sie den Kaffee tranken und die Zeit des Aufbruchs näher rückte, erklärte Ginette ihnen, die wie alle Frauen nicht lange um den heißen Brei herumredete, dass sie sich mit den beiden in Nantes treffen würde. Einfach so, »um sie noch einmal zu sehen«. Angeblich wollte sie die Gelegenheit nutzen, um Freundinnen zu besuchen, die in der Gegend wohnten, und um einen Schaufensterbummel zu machen. Natürlich, ohne etwas zu kaufen, denn die Welt stecke ja mitten in der Wirtschaftskrise.
Charles und Georges hatten vor, Nantes am Dienstag, dem 7. Oktober, zu erreichen. Georges sah schon vor Augen, wie die Helden der Tour bei der Ankunft von der Menge, die vor allem aus Ginette bestand, bejubelt wurden. Mit gespielt ernster Miene wies Charles darauf hin, dass die Anwesenheit der Ehefrauen der Sportler nach dem Reglement der Tour nicht erlaubt sei. Doch Georges, der heute in Bestform war, wandte ein: »Ah, das trifft sich gut, denn Ginette ist weder deine noch meine Ehefrau. Und von einem Verbot der Freundinnen der Sportler steht nichts im Reglement.« Ginette spielte die Verlegene, und Charles sagte lachend: »Na ja, wenn es nicht im Reglement steht ...« Sie stießen mit einem kleinen Gläschen Pflaumenschnaps auf das Reglement an (Charles tauchte nur ein Stück Würfelzucker in den Schnaps, denn er musste fahren). Damit sie sich in Nantes auch nicht verpassten, zeigte Ginette Georges und ihrem Bruder, wie man eine Telefonnummer in Georges’ Handy speicherte. Sie schrieb »Ginette Bruneau« und gab ihre Telefonnummern ein. Anschließend speicherte sie Georges’ Nummer und seinen Namen in ihrem Handy. Sie versprachen anzurufen, um eine Uhrzeit und einen Treffpunkt auszumachen. Für Georges veränderten diese angenehmen Augenblicke ein wenig seine Vorstellung, die er von der Tour gehabt hatte. Eine Sache jedenfalls stand für ihn hundertprozentig fest:
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