Denn das Glueck ist eine Reise
Dieses krumme Haus, Kulisse, Set und irgendwie auch Darsteller im Film, bestimmte seit neun Tagen ihren Alltag. Die Schauspieler in Kostümen aus der Nachkriegszeit saßen mit Plastiktellern auf Stufen aus schwarz lackiertem Holz und verschlangen ihr Essen, während sie sich mit Technikern in Jeans unterhielten. Es wurde Zeit, dass sie sich ebenfalls in der Kantine im Erdgeschoss etwas zu essen holte.
Adèle war nicht mehr so gestresst wie an den ersten Tagen, aber auch nicht mehr so beigeistert wie am Anfang. Allmählich lernte sie die anderen des Filmteams besser kennen, das heißt auf beruflicher Ebene (wer machte was, und wer hatte wem etwas zu sagen). Auch privat lernte sie die Kollegen kennen, aber Leute, mit denen sie wirkliche Gemeinsamkeiten entdeckte, waren selten. Den anderen ging sie lieber aus dem Weg. Adèle war keine Einzelgängerin, sie hatte sogar viele Freunde. Zweihundertneunzehn bei Facebook. Aber um die Formulierung ihres Großvaters zu benutzen, so mochte sie es auch nicht, wenn man ihr auf den Wecker ging – vor allem nicht bei einem Job, für den sie nicht bezahlt wurde. Daher hielt sie sogar zu jenen Abstand, deren Gesellschaft sie als relativ angenehm empfand. Immer wenn der Austausch von Vertraulichkeiten angesagt war, ließ sie sich aus Höflichkeit auf ein Gespräch ein, blieb selbst aber immer beim Beruflichen. Adèle hatte genug Zeit an Sets verbracht, um zu wissen, dass die Freundschaften, die dort geschlossen wurden, ebenso unecht waren wie die Schnurrbärte der Schauspieler. Nach drei Aufnahmen waren alle Freunde fürs Leben. Sobald allerdings alle ihren Rausch nach der großen Drehabschluss-Party ausgeschlafen hatten, vergaß man die anderen sofort wieder. Es war besser, sich mit niemandem anzufreunden, dann wurde man auch nicht enttäuscht.
Nachdem Adèle sich etwas von den nicht besonders lecker aussehenden Gerichten auf ihren Plastikteller geschaufelt hatte, stieg sie die vier Etagen hinauf, um im Produktionsbüro in aller Ruhe zu essen. Leider saßen dort schon zwei junge Frauen und aßen, und Adèle konnte ihre Einladung, sich zu ihnen zu setzen, nicht ablehnen. Michelle und Sophie, die zweite Assistentin der Regie beziehungsweise der Maske, ähnelten sich. Sie waren beide fast dreißig Jahre alt und recht hübsch, aber ihnen fehlte es an Ausstrahlung. Offenbar stammten sie aus besseren Kreisen. Sie sprachen schnell und viel und gaben sich große Mühe, ihren versnobten Akzent zu vertuschen. Die Gespräche, die hier geführt wurden, hatten wenig mit Adèles früheren Vorstellungen von der Filmbranche zu tun: Beim Film würde jeder nach seinem wahren Wert bezahlt werden, man könnte seinem Talent Ausdruck verleihen, und zwischen zwei gelungenen Drehs würde man über das Erbe der Nouvelle Vague, die neue Ästhetik in den Filmen von Wong Kar-Wai oder die Neuverfilmung der Klassiker von John Cassavetes sprechen. Die Wirklichkeit sah anders aus. Michelle und Sophie sprachen über den Toningenieur Steve, der seine Frau betrog und Sally, das Skriptgirl, auf der Toilette des Swan Pubs flachlegte, und über die Sauferei am Dienstagabend, die noch schlimmer war als die am Montagabend.
In solchen Augenblicken spielte Adèle mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen. Ihr Job war lächerlich. Den Kaffee holen, den Schauspielern Händchen halten, die Statisten beruhigen, wenn sie fünf Stunden warten mussten, weil die Dreharbeiten sich verzögerten, die Walkie-Talkies aufladen und auf die Straße hinuntergehen, um den Besitzer eines Autos zu suchen, dessen Alarm die Dreharbeiten behinderte ... Sie arbeitete fünfzehn Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche, ohne einen Penny dafür zu bekommen. Wenn sie wenigstens noch etwas gelernt hätte! Aber sie lernte rein gar nichts, wenn man einmal davon absah, dass sie jetzt über die sexuellen Glanzleistungen von Sally, dem Skriptgirl, im Bilde war. Meistens war sie weit vom eigentlichen Set entfernt, oder in dem Raum, in dem sich die Handlung abspielte, war nicht genügend Platz für alle, und schon gar nicht für eine Praktikantin. Alles, was sie sehen wollte – die Kamerabewegungen und die Regieanweisungen, kurzum, den kreativen Prozess –, von all dem, wovon sie hoffte, es würde später einmal im Hollywood ihrer Träume ihre Aufgabe sein, sah sie nichts.
Und obendrein musste sie noch diese primitiven Gespräche ertragen. Wenn wenigstens Irving Ferns noch dabei wäre! Irving Ferns hatte an den ersten beiden Tagen die Rolle des ermordeten
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