Denn das Glueck ist eine Reise
aufgebrochen, um der grausamen Langsamkeit der Zeit zu entrinnen. Um das Schicksal herauszufordern. Um Schluss zu machen.
Aber das war vorher. Vor Ginette, vor Adèle, vor der Bretagne und ihrer bezaubernden Landschaft und vor den Picknicken mit Charles. Und es war, bevor er einen Rest an Freude in seinem Schrittmacherherzen entdeckt hatte. Vorher. Vorher glaubte er, das Glas sei leer, aber jetzt wusste er, dass noch ein guter Schluck darin war. Möglicherweise sogar noch mehr. Warum sollte er diesen nicht mit anderen teilen, in aller Ruhe, ohne zu hetzen? Ja, ohne zu hetzen.
Georges beschloss also, die Tour de France jetzt zu beenden. Diese Entscheidung hätte eigentlich wie ein Triumph klingen müssen.
Mittwoch, 8. Oktober
Nantes (Loire-Atlantique) – Cholet (Maine-et-Loire)
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Georges war erleichtert, als er Charles im Speisesaal sitzen sah. Er hatte sich nämlich schon Sorgen gemacht. Charles sagte mit einem verschmitzten Lächeln, er habe die Nachricht erhalten, es aber vorgezogen, die beiden allein zu lassen. Georges lächelte auch. Es war nicht nötig, dem etwas hinzuzufügen.
Doch das, was Georges seinem Freund nun sagen musste, wollte einfach nicht heraus. Er hatte die halbe Nacht damit verbracht, sich die richtigen Worte zurechtzulegen. Charles sollte auf keinen Fall glauben, es habe mit diesem dummen Streit vor dem Museum Louison-Bobet zu tun. Er musste diplomatisch vorgehen.
»Hm ... Charles, es gibt da etwas, worüber ich mit dir sprechen muss. Ich glaube, ich beende die Tour hier.«
»Ach ja?«, murmelte Charles und erstarrte.
»Ja, es ist schön, dieses Abenteuer, aber für meine alten Knochen ist das nicht leicht. Ich benehme mich wie ein alter Dummkopf, und es gefällt mir gar nicht, dich im Stich zu lassen, aber manchmal muss man auf seine innere Stimme hören. Und ich finde, wenn man nicht mehr mit dem Herzen dabei ist, hat es keinen Sinn, weiterzumachen. Um ehrlich zu sein, ist es vor allem die Ruhe, die mir fehlt. Weißt du, ich habe schon seit mehreren Etappen das Gefühl, dass ich mich ausruhen muss. Es geht mir alles zu schnell.«
Charles schwieg.
»Und ich muss noch etwas loswerden, Charles. Der Wald von Brocéliande. Davon habe ich gar nichts gesehen. Ich habe in Saint-Méen zwei Stunden auf einem Parkplatz geschlafen. Und außerdem habe ich nicht gut geschlafen, weil wir uns gestritten hatten.«
»Es ist schon komisch, dass du das sagst«, erwiderte Charles traurig. »Ich habe auch nichts von dem Museum gesehen. Es war geschlossen. Montags ist es immer zu. Also habe ich auch geschlafen, und zwar in einem Café in Saint-Méen. Und du hast recht, man schläft nicht gut, wenn man ... hm, du weißt schon.«
Charles schien betroffener zu sein, als Georges es erwartet hatte, und das setzte ihm schrecklich zu.
»Es ist wegen Ginette, nicht wahr?«, fragte Charles fast flüsternd.
»Nicht nur, aber, na ja, auch«, erwiderte Georges nach einem Moment des Zögerns. »Sie hat mich nach Notre-Dame-de-Monts eingeladen. Für eine Woche. Um sich von all den Tagen, die wir auf Achse waren, einmal richtig zu erholen. Es waren übrigens verdammt schöne Tage. Ich finde, deshalb ist es auch nicht schlimm, wenn man mal ein bisschen verschnaufen möchte.«
»Gäbe es eventuell die Möglichkeit, dass ihr diese Woche erst nach der letzten Etappe gemeinsam verbringt? Oder auch vorher, aber erst, wenn wir noch ein Stück weitergefahren sind?«, fragte Charles ihn leise und beinahe mit Tränen in den Augen, als hätte er Georges´ Argumente nicht gehört.
Zum ersten Mal erkannte Georges, wie verletzbar Charles war, dieser gute alte Charles mit den kräftigen Händen eines Bauern, und das rührte ihn zutiefst. Irgendetwas entging ihm hier. Zum ersten Mal seit Jahren verstand er seinen Nachbarn nicht, und er wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte.
»Ach, Charles, wir jagen ja nicht dem Gelben Trikot hinterher«, sagte er zögernd.
Seltsamerweise klangen die Sätze, die er sich gestern Abend zurechtgelegt hatte, jetzt wie faule Ausreden.
Charles, der sich über sein Frühstück beugte, schwieg eine ganze Weile.
»Ginette, die weiß es nicht. Wenn sie es wüsste, hätte sie dich nicht gerade jetzt für eine Woche eingeladen«, erklärte er ihm schließlich in feierlichem, fast verächtlichem Ton.
Georges staunte nicht schlecht, als er das hörte.
»Was soll das heißen, Charles?«, stammelte Georges. »Ich habe Ginette nichts verheimlicht. Ich habe übrigens nichts
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