Denn das Glueck ist eine Reise
Maß. Zuerst erklärte sie nachdrücklich, sie habe so viele private Termine, dass sie vollkommen ausgebucht sei. Freunde würden sie zu Hause besuchen, und sie war bei ihnen zu Gegenbesuchen eingeladen. Trotz der zahlreichen Verabredungen gab es jedoch noch eine Lücke von einer Woche, in der keine Treffen geplant waren und die sie allein zu Hause verbringen würde. Wahrscheinlich würde es auch noch nicht zu kalt sein, da es sich um die nächste Woche handelte. Sie freute sich, sagte sie zu Georges, auf lange Spaziergänge am Meer und in den Pinienwäldern. Leider war Georges ziemlich schwer von Begriff. Es waren noch ein paar Anspielungen nötig, die immer subtiler wurden, ehe er verstand – oder vielmehr, bis er absolut sicher war, es richtig verstanden zu haben –, dass sie ihn in der nächsten Woche nach Notre-Dame-de-Monts einlud.
Diese Einladung kam wie aus heiterem Himmel. Georges war sehr zufrieden mit seiner Tour durch die Bretagne. Alles, wozu er jetzt Lust hatte, war, sich an einem gemütlichen Ort niederzulassen, die Jahre, die ihm noch blieben, zu genießen und seiner Enkeltochter SMS zu schicken. Wenn Ginette auch noch mit von der Partie war, wurde dieses Angebot fast unwiderstehlich.
Georges und Ginette verbrachten den Nachmittag damit, durch die Straßen von Nantes zu spazieren. Ginette machte es Freude, Georges als Reiseführerin zu dienen. Sie zeigte ihm das Viertel rund um die Kathedrale mit den kleinen gewundenen Gässchen. Sie kamen an dem Museum der Schönen Künste vorbei, aber Georges gestand Ginette sofort, dass er nicht so ein großer Museumsliebhaber sei. Er pochte hingegen darauf, dass sie einen Blick auf den Justizpalast warfen, von dem er ein Foto in einer der Zeitschriften in seinem Hotelzimmer gesehen hatte. Sie nahmen ein Taxi und ließen sich vor einem großen, modernen Gebäude aus schwarzem Metall, Beton und Glas absetzen. Wider Erwarten war Georges stark beeindruckt. Ginette hatte eher damit gerechnet, dass Georges klassische Baustile bevorzugte. Seinem Ruf getreu, bedauerte Georges dennoch, dass hier die Liebe zum Detail fehlte. Sie besichtigten in aller Ruhe das Gebäude, und Georges nutzte die Gelegenheit, Ginette alles zu erzählen, was er über Bautechnik und Architektur wusste. Ginette hörte höflich zu. Vom obersten Stockwerk des Justizpalastes hatten sie einen fantastischen Blick auf Nantes und die Loire, die zu ihren Füßen durch ihr schlammiges Bett floss.
Am Spätnachmittag riefen sie über Georges’ Handy im Hotel an, um sich zu erkundigen, ob Charles zurückgekehrt war, doch sie erreichten ihn nicht. In der Nähe der mit eleganten, klassischen und schnörkellosen Gebäuden gesäumten Prachtstraße Saint-André entdeckten sie ein kleines Feinschmeckerlokal, in dem raffinierte Speisen in einem gemütlichen Ambiente serviert wurden. Und mit dem betörenden, fast dekadenten Genuss einer cremigen Schokoladen-Ganache endete der erste Tag ihrer beginnenden Romanze.
Georges setzte sich in dem großen Zimmer mit der modernen Einrichtung und den astronomischen Preisen aufs Bett. Es war spät geworden. Er hatte Adèle die kurze abendliche SMS geschickt, sich über die Erlebnisse des Tages aber nicht ausgelassen. Er war von seinem Ausflug mit Ginette noch immer ganz durcheinander. Vor einer Stunde war sie zurück nach Notre-Dame-de-Monts gefahren. Georges seufzte. Wenigstens war das Hotel komfortabel. Seit ihrer Abfahrt fehlte es ihm an Komfort. Das Zimmer in Auray war gut gewesen. Das im Wald von Paimpont, zumindest das der zweiten Nacht, konnte man ebenfalls noch gelten lassen. Ach, aber das Zimmer bei Ginette, das war wirklich das wohnlichste und gemütlichste von allen! Und bei ihr hatten sie wenigstens in geselliger, unterhaltsamer Runde gefrühstückt. Diese verrückte Abenteuerreise war doch ganz schön anstrengend. Er hatte sich von der ersten Nacht im Wald von Paimpont noch nicht richtig erholt und war erschöpft. Sein Herz war leicht, doch sein Körper war müde. Furchtbar müde. Ginettes Angebot kam wie gerufen.
Georges verbrachte den Abend damit, auf dem Bett zu sitzen und über das Abenteuer nachzudenken. Wie konnte er nur die eigentlichen Gründe vergessen, weshalb er zur Tour de France aufgebrochen war? Er hatte so lange ganz allein an seinem Plan gearbeitet. Und das in Packpapier eingewickelte Päckchen unter seinen sauberen Socken erinnerte ihn jedes Mal, wenn er den Koffer ein- und auspackte, an seine wahren Gründe. Er war zu dieser Tour
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