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Denn das Glueck ist eine Reise

Denn das Glueck ist eine Reise

Titel: Denn das Glueck ist eine Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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nachdachte, hatte es vorher schon andere Situationen gegeben. Der Tag, an dem Charles nicht mehr wusste, wie man Kräutertee aufbrühte, und andere Vorfälle dieser Art. Und jetzt verstand er auch, warum Charles, der unschlagbar war, wenn es um Anekdoten ging, nicht mehr über die Tour sprach.
    Was sollte er sagen? Keine schlechte Idee mit der Tour de France, aber was dann? Sollte Charles dann eine Weltreise machen? Heutzutage ging das schnell, denn die Welt war nicht mehr so groß ... Sollte er bis ans Ende seiner Tage wie ein Weltenbummler auf den Straßen leben? Von seinen Liebsten getrennt, um sie nicht zu vergessen? Charles hatte recht. Über die Demenz wurde viel gesprochen, aber man wusste nichts darüber. Es passierte immer nur den anderen. Und jetzt sah er, dass Charles zu diesem Schicksal verurteilt war und sich an Illusionen klammerte. Unter diesem Aspekt betrachtet war diese Tour de France absurd. Wie gerne wäre er jetzt ein Optimist gewesen, wie gerne hätte er an das, was sein Freund ihm erzählt hatte, geglaubt und an seine Heilung. Verdammt, und wenn er schon einmal dabei war, wie gerne hätte er jetzt auch an Gott geglaubt, damit er ein Wunder geschehen ließ – für seinen Freund.
    Schließlich brach Charles die Stille.
    »Ich muss dir noch etwas sagen, Georges. Ich bin froh, dass ich mit dir darüber gesprochen habe, verstehst du. Denn wenn man es noch dazu verheimlichen muss ... nun ja ... Jedenfalls habe ich dir das alles erzählt, um dir zu erklären, dass Ginette ihre Einladung ausgesprochen hat, weil sie nichts von all dem weiß. Aber wenn es für dich jetzt zur Strapaze wird − was will man da machen? Da kann man nichts machen.«
    Es dauerte eine ganze Weile, bis Georges den Mut fand, darauf zu antworten.
    »Doch, das kann man.«
    Noch am selben Nachmittag brachen sie zur dritten Etappe auf. Und dieses Mal würden sie die Tour auf gar keinen Fall mehr abbrechen.

    »Auf die Tour de France. Auf Jean-Paul Brouchon!«, rief Georges fröhlich, als er den Sicherheitsgurt anlegte. Die beiden Großväter machten sich mit einer Begeisterung auf den Weg, wie sie sie seit dem ersten Tag nicht mehr gespürt hatten. Und am ersten Tag hatten sie eindeutig weniger gelacht. Charles’ offene Worte waren wie ein neuer Meilenstein auf der Reise ihrer langjährigen Freundschaft. Übrigens konnte man jetzt mit Fug und Recht behaupten, dass sie Freunde und nicht nur Nachbarn waren. Charles war sichtlich erleichtert, dass er mit Georges über seine Ängste gesprochen hatte. Er hatte auch lange mit seiner Schwester telefoniert. Für sie war es ein harter Schlag gewesen, doch sie stimmte zu, dass er sein Gedächtnis trainieren musste. Georges würde also nicht nach Notre-Dame-de-Monts kommen, aber im November erwartete sie ihn auf jeden Fall.
    Gut gelaunt, wie er war, begann Georges auf der Fahrt von Nantes nach Cholet Y’a d’la joie zu pfeifen, das Chanson von Trenet, das ihn durch seine Jugend begleitet hatte. Charles stimmte mit ein. Er traf zwar nicht immer den richtigen Ton, aber es klang trotzdem sehr fröhlich. Und plötzlich sprudelten die Worte fast wie von selbst aus Charles’ Mund:
    »Miracle sans nom à la station Javel
    On voit le métro qui sort de son tunnel
    Grisé de soleil, de chansons et de fleurs
    Il court vers le bois, il court à toute vapeur
    Y´a d´la joie, bonjour, bonjour les hirondelles!«
    Und so ging es weiter bis zur vorletzten Strophe des Liedes. Sie kamen von weither, diese Worte, und sie verliehen Charles einen ganz neuen Schwung, der ihn vollkommen mitriss.
    »Oh, an den Rest erinnere ich mich nicht mehr«, sagte er kurz vor der letzten Strophe voller Begeisterung und mit vorgetäuschter Bescheidenheit.
    »Trotzdem, Hut ab!«, rief Georges. »Sie taten, was Sie konnten, und das erstaunte mich zutiefst.«
    »Brambilla! Pierre Brambilla! Die Tour 47!«, schrie Charles, nachdem er kurz nachgedacht hatte.
    »Gewonnen!«
    »Siehst du, ich hab nicht alles vergessen! Da ist noch ganz schön was drin in meinem Schädel.«
    Die Reise führte sie langsam, aber sicher in ihre Heimat zurück. Sie verbrachten den Abend und die Nacht in Cholet bei einem Ehepaar, mit dem Charles befreundet war. Nach dem anstrengenden Tag konnte Charles sich entspannen, indem er lange und unbeschwert mit seinen Freunden plauderte. Georges hingegen zog sich früh zurück, nachdem er die verschiedensten Wehwehchen am ganzen Körper aufgezählt hatte. In Wahrheit war er mit den Nachrichten an Adèle

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