Denn ewig lebt die Liebe
gesagt. ´Jetzt braucht er dich mehr denn je. Ich verlasse mich auf dich, meine Große.`
Natja hatte ihrer Mutter in die Hand versprochen, sie nicht zu enttäuschen. Für einige Zeit war sie sogar davon überzeugt gewesen, die Verstorbene würde noch immer an ihrer Seite sein und ihr zuflüstern, wie sie sich verhalten sollte.
In der Zwischenzeit jedoch hatte die Fünfzehnjährige den Tod der Mutter einigermaßen verarbeitet, sodass sie es auch ertragen konnte, ohne das Gefühl ihrer Nähe weiterleben zu können. Jetzt ging es um den Vater, der offensichtlich noch immer so sehr litt wie am ersten Tag.
"Was wolltest du sagen, Vati?"
Dr. Hofmann fuhr sich mit den Fingern erneut durchs Haar. Das tat er immer, wenn er nervös war oder in irgendeiner Sache nicht mehr weiter wußte. "Jetzt habe ich es vergessen", lenkte er hastig ab. "Ich denke gerade, dass ich vielleicht doch einmal eines von diesen Büchern lesen sollte", wiederholte er leise.
"Soll ich dir eines aussuchen, das besonders wichtig ist, vor allem dann, wenn man noch keine Ahnung davon hat so wie du."
"Danke für das Kompliment", bemerkte der Arzt trocken und schmunzelte in sich hinein. "Dennoch möchte ich kurz etwas anderes anschneiden, was mir im Augenblick wichtig erscheint. Glaubst du, dass du dich mit der Zeit hier einleben kannst, oder ist deine Sehnsucht nach dem Stadtleben so groß, dass du mir ständig Vorwürfe machen wirst?"
"Bitte, lass mir Zeit, Vati. Ich weiß selbst noch nicht, wie es hier weitergehen soll. Doch ich verspreche dir, dass ich mich anstrengen will, dir zuliebe." Sie erhob sich und trat neben ihren Vater. Zärtlich strich sie ihm über den Nacken. "Wir werden es schon schaffen", fügte sie leise hinzu. Dann hauchte sie ihm einen Kuß auf die Wange und lief zur Tür.
"Das hast du schön gesagt, mein Schatz", stellte der Arzt bewegt fest. "Ich bin froh, dass ich dich habe. So bin ich nicht allein, habe einen Menschen an meiner Seite, mit dem ich über die meisten Dinge sprechen kann."
"Das stimmt. Wenn du nur nicht immer vergessen würdest, dass ich kein Kind mehr bin." Noch ehe Dr. Hofmann antworten konnte, hatte Natja das Sprechzimmer verlassen. Vorsichtig machte sie die Tür hinter sich zu.
Der Arzt schüttelte den Kopf. Bereits vor Wochen, als sie ihren Umzug nach Haselheide vorbereitet hatten, da hatte er sich auch schon Gedanken darüber gemacht, wie er Natja irgendwann einmal diese Entscheidung erklären würde.
Heute war dieser Tag Irgendwann da gewesen. Und was hatte er getan? Nichts hatte er erklärt, denn Natja hatte das Gespräch einfach an sich gerissen, es in erträgliche, tröstliche Bahnen gelenkt, so wie das auch Simone immer getan hatte.
Unerwartet stiegen Alexander Tränen in die Augen. Das kam so überraschend, dass er gar nichts mehr dagegen tun konnte. Sie liefen und liefen und verschleierten seinen Blick. In diesem Moment fühlte er sich so schwach und hilflos, dass er nur noch die Hände vors Gesicht legte und sich seiner Trauer hingab.
Der Arzt hörte nicht einmal, wie leise die Tür geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen wurde. Ingeborg Blatt hatte eigentlich zum Essen rufen wollen. Doch das verschob sie jetzt um eine halbe Stunde. Ihr mütterliches Herz hatte Verständnis für Dr. Hofmanns Tränen.
Zum ersten Mal war die Haushälterin überzeugt davon, dass alles gut werden würde. Und sie nahm sich vor, stets zu dem Arzt zu halten, auch wenn die Bewohner von Haselheide gegen den Mediziner aus der Stadt rebellierten. Eines Tages würden sie ihn akzeptieren müssen. Und was Ingeborg dazu tun konnte, das wollte sie tun.
* * *
Wie so oft in der letzten Zeit unternahm Melanie Gruber einen kurzen Spaziergang, ehe sie zu Bett ging. Sie brauchte diese Stunde in der Natur ganz einfach, um von den Ereignissen des Tages abzuschalten. Und wo war es dann schöner als in den Getreidefeldern des Gutes, das Michael von Melhus gehörte.
Auch heute abend konnte die junge Frau der Versuchung nicht widerstehen, ihre Runde zu drehen. Doch zu ihrer Überraschung hatte sie offensichtlich nicht als einzige diese Idee gehabt. Mit raschen Schritten näherte sich ihr ein Mann, den sie beim Näherkommen als Werner Simons erkannte, den so genannten Aushilfsknecht des Gutes.
Schon einige Male hatte sie mit ihm gesprochen, wenn sie sich in der Apotheke gesehen hatten, wo der Mann ein häufiger Kunde war. Und stets hatte Melanie ihm gegenüber ein wenig Unsicherheit gespürt, und ihr Herz hatte etwas
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