Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
ineinander floss und die Zeit schneller verging als sonst. Als er sich aufrichtete, fiel sein Blick auf den Spiegel über der Kommode, und er sah sein hageres, erschöpftes Gesicht, die neuen Falten um die Mundwinkel.
Die Arbeit war nur für einen kleinen Teil der Unzufriedenheit verantwortlich, die er in letzter Zeit empfunden hatte – eine Lappalie im Vergleich zu der klaffenden Lücke, welche die Abwesenheit seiner Tochter nach der Trennung von Laura in sein Leben gerissen hatte. Sein Blick fiel auf den Koffer, auf die paar armseligen Dinge, die Harriet im Laufe ihrer Wochenenden in seiner tristen Mietwohnung in der Borough High Street angesammelt hatte, und wieder überkam ihn die wohlbekannte Verzweiflung.
Für einen Moment verließ ihn der Mut. Aber nein – er war schon zu weit gegangen, und er kannte Laura nur zu gut. Er wusste von ihrem zunehmenden Engagement für das Frauenhaus, und er wusste, dass diese Einrichtung es Frauen ermöglichte, mit ihren Kindern unterzutauchen. Und als sie ihm am vergangenen Sonntag diese Drohung an den Kopf geworfen hatte, da hatte er genau gewusst, was sie vorhatte.
Nun, sie hatte ihre Chance vertan, dachte er, mit neuer Entschlossenheit. War sie denn nie auf den Gedanken gekommen, dass sie nicht die Einzige war, die dieses Spiel spielen konnte, und dass er im Vorteil war? Nirgendwo konnte man so leicht
mit einem Kind untertauchen wie in Osteuropa, und er hatte Verwandte in Tschechien, die ihm helfen würden. Ein neuer Name, neue Papiere, ein Job in irgendeiner Provinzstadt, wo Ärzte händeringend gesucht wurden – all das war ein Kinderspiel. Er würde mit Harriet ein neues Leben beginnen, und nichts würde sie künftig trennen können.
Für das Krankenhaus würde es zweifellos ein wenig problematisch sein, ihn so ohne Vorwarnung zu verlieren, doch es gab schließlich noch andere Ärzte, die in der Lage waren, Schnittwunden zu verbinden und Antibiotika zu verschreiben.
Es ging schließlich um Harriet, und Harriet hatte er vorläufig an einem sicheren Ort untergebracht – er hatte es nicht gewagt, noch länger zu warten und sie erst später am Tag abzuholen. Nachdem er die Sache einmal ins Rollen gebracht hatte, war er von einer zunehmenden Ungeduld erfasst worden. Jetzt blieben nur noch zwei Dinge zu tun: ein Gang zur Bank, und dann Harriets Papiere. Aber um diese zu besorgen, musste er Lauras Wohnung betreten, und das konnte er nur mit Harriets Schlüssel und auch nur dann tun, wenn er sich hundertprozentig sicher sein konnte, dass niemand zu Hause war.
Aber Harriet konnte er dazu nicht mitnehmen. Sie würde ihn nur mit Fragen bestürmen. Dabei wollte er ihr noch nicht sagen, was er vorhatte; also war er gezwungen gewesen, die eine Person anzurufen, der er Harriet für einige Stunden anvertrauen zu können glaubte. Er hatte ausgemacht, dass sie sich um zwölf Uhr mittags am Bahnhof London Bridge treffen würden, und dann würde er Harriet erzählen, dass er eine Überraschung für sie geplant hatte, ein Abenteuer. Die Wahrheit konnte noch warten, bis sie auf der anderen Seite des Ärmelkanals waren, weit weg von England und dem ganzen Elend der vergangenen Monate. Er würde es ihr sagen, wenn er glaubte, dass der richtige Moment gekommen war, und der Gedanke, dass von nun an einzig und allein seine Entscheidungen zählten, wenn es um seine Tochter ging, entlockte ihm ein Lächeln.
3
… die Wahrheit, dass Kleinigkeiten die Summe des Lebens ausmachen.
Charles Dickens, David Copperfield
»Tja, in diesem Fall können wir eine exakte Messung der Körpertemperatur wohl vergessen, wie?«, meinte Kate Ling trocken. Sie hockte neben der Leiche und balancierte ihr Gewicht mit einer Leichtigkeit auf den Ballen, die in Kincaid Neid auf ihre Oberschenkelmuskeln weckte. Bei jedem anderen Menschen hätte diese Haltung unbeholfen gewirkt, aber die Pathologin des Innenministeriums brachte es sogar fertig, sich in dem weißen Overall, der für Tatortbegehungen vorgeschrieben war, mit Anmut zu bewegen.
Kincaid hatte schon bei einer Reihe von Fällen mit Kate Ling zusammengearbeitet, und er hatte festgestellt, dass sie nicht nur gut in ihrem Job, sondern auch ernsthaft daran interessiert war, der Polizei bei ihren Ermittlungen zu helfen; ein Zug, der längst nicht jeden Pathologen auszeichnete. Manche wachten geradezu eifersüchtig über die ihnen anvertrauten Leichen und rückten kaum Informationen heraus.
Kate streifte ihre dünnen Latexhandschuhe über. »Haben
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