Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
eingebildeter Gesundheit, kein Auskosten der Erinnerung an ihr altes Leben.
Fanny Liu schlug die Augen auf und begann sich zögerlich zu orientieren. Es war später als gewöhnlich, das konnte sie an dem Winkel ablesen, in dem das Licht durch das Wohnzimmerfenster einfiel; doch der Himmel war noch ebenso bedeckt wie am Vortag. Wie immer, seit sie die Treppe nicht mehr bewältigen konnte, hatte sie auf dem alten, samtbezogenen Sofa geschlafen, das ihrer Mutter gehört hatte. In diesem Fall war ihre kleine Statur ausnahmsweise ein Segen – wäre sie nur wenige Zentimeter größer gewesen, hätten ihre Füße über den Rand ihres behelfsmäßigen Bettes hinausgeragt. In der Nacht lag sie zwischen den schützenden Armlehnen des Sofas wie in einer Wiege; am Tag konnte sie ihr Bettzeug verschwinden lassen, was ihr erlaubte, die Illusion eines normalen Lebens zu wahren.
Elaine hatte sie natürlich dazu überreden wollen, ein richtiges Bett ins Wohnzimmer zu stellen, aber dieses eine Mal hatte Fannys sanfter Widerstand den Sieg über die forsche, zupackende Art ihrer Mitbewohnerin davongetragen. Der Rollstuhl war schon schlimm genug. Ein Bett im Wohnzimmer wäre für Fanny dem Eingeständnis gleichgekommen, dass ihr Zustand sich vielleicht nie wieder bessern würde.
Ihr Kater Quinn lag noch zusammengerollt auf ihren Füßen. Das einzige Geräusch in der Wohnung war sein leises Schnurren. Es war die Stille, die sie geweckt hatte, das wurde
Fanny schlagartig klar. Von oben waren keine Schritte zu hören, und auch in der Küche rührte sich nichts. Elaine war immer als Erste munter, kochte Kaffee und räumte in der Wohnung herum. Bevor sie ins Guy’s Hospital fuhr, wo sie in der Krankenhausverwaltung arbeitete, nahm sie sich stets die Zeit, für Fanny Tee und Toast zu bereiten und ihr beim Aufstehen und Waschen zu helfen.
Vielleicht hatte Elaine verschlafen, dachte Fanny – aber nein, Elaine war so pünktlich wie der Glockenschlag von Big Ben. War sie etwa krank? »Elaine?«, rief Fanny zögernd und zog sich an der Armlehne des Sofas hoch. Ihre Stimme schien in dem leeren Raum zu verhallen, und die Angst durchzuckte sie wie ein Blitz. »Elaine?«
Keine Antwort.
Plötzlich fiel Fanny ihr Traum wieder ein – ein wirrer Albtraum mit Türen, die sich leise schlossen, und sie empfand aufs Neue das unerklärliche Gefühl des Verlusts, das den Traum begleitet hatte. Es ließ sie daran denken, wie sie vor dem Ausbruch ihrer Krankheit als Privatkrankenschwester an den Betten von Sterbenden gewacht hatte; an die Nächte, in denen sie aus einem unbeabsichtigten Nickerchen aufgeschreckt war und augenblicklich gewusst hatte, dass ihr Patient gestorben war, während sie geschlafen hatte.
Und ebenso sicher wusste sie jetzt, da die Stille um sie herum immer bedrückender wurde, dass niemand außer ihr in der Wohnung war. Das Geräusch der Tür, die ins Schloss fiel, hatte sie nicht nur geträumt.
Elaine war weg.
Nichts hasste Harriet Novak mehr, als Fremden erzählen zu müssen, dass sie auf die Little-Dorrit-Schule ging. Die Erwachsenen lächelten dann immer und konnten sich kaum beruhigen, als ob sie das furchtbar süß fänden- wobei Harriet sich immer fragte, wie viele von diesen Leuten Klein Dorrit tatsächlich
gelesen hatten -, und die Kinder starrten sie nur mit großen Augen an, als wäre sie gerade von einem anderen Planeten hergebeamt worden.
Dabei war die Schule gar nicht mal so schlecht, das musste sie schon zugeben, als sie an diesem Morgen auf dem Pausenhof stand und mit der Spitze ihres Turnschuhs im Sand bohrte, während sie auf das erste Läuten wartete. Wenn der Name nur nicht so furchtbar kitschig geklungen hätte – es war, als müsste man den Leuten sagen, dass man Tiny Tim, wie in der Weihnachtsgeschichte, hieß.
Es half allerdings, gut vorbereitet zu sein, das hatte Harriet gelernt – Wissen als unverzichtbare Verteidigungswaffe für jemanden, der in einer Dickens-getränkten Gegend wie dieser aufwachsen musste. Sie hatte die Biografie in der Schulbibliothek gelesen und konnte den Leuten mehr über Dickens erzählen, als die meisten hören wollten. Charles Dickens’ Vater hatte für kurze Zeit im Marshalsea-Gefängnis eingesessen, ganz in der Nähe der Schule, und der zwölfjährige Charles hatte nicht weit von dort in einem möblierten Zimmer gewohnt. Diese Erfahrung hatte ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr losgelassen und war in viele seiner Bücher eingeflossen; später waren dann seine
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