Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
Aktenstapel auf seinem Schreibtisch sprach dagegen. Außerdem hatte sich der Himmel merklich verdüstert, seit er ins Büro gekommen war, und er hatte keine Lust, in einen Regenguss zu geraten. »Okay«, sagte er und unterdrückte einen Seufzer. »Einen Kaffee. Aber wirklich nur Kaffee, bitte, und nicht dieses neumodische Latte-Zeug.«
Cullen grinste und salutierte ironisch. »Alles klar, Boss. Bin gleich wieder da.«
Es war ein schlechtes Zeichen, dachte Kincaid, wenn einem selbst an einem so trostlosen Morgen die Aussicht auf einen Spaziergang verlockender erschien als die Arbeit am Schreibtisch, aber Verwaltungsarbeit und Berichte waren noch nie seine Stärke gewesen. Dabei war es nicht etwa so, dass er kein Talent dafür hatte; es fehlte ihm einfach nur an der nötigen Geduld. Er war nicht zur Polizei gegangen, um in der Verwaltung zu verstauben, und doch schien das zunehmend die Realität zu sein. Und er war an einem Punkt in seiner Laufbahn angelangt, an dem er sich mehr und mehr gedrängt fühlte, auf eine Beförderung hinzuarbeiten – doch das würde bedeuten, dass sich seine Außendienststunden noch weiter reduzierten.
Könnte er bleiben, wo er war, und zusehen, wie Cullen und andere Kollegen mit Uniabschluss auf der Überholspur an ihm
vorbeizogen, ohne dass er irgendwann verbittert wurde? Das war eine Aussicht, über die er lieber nicht zu viel nachdenken wollte, und so wandte er sich mit düsterer Miene wieder der Leistungsbeurteilung auf seinem Schreibtisch zu. Doch als im nächsten Moment sein Telefon klingelte, stürzte er sich darauf wie ein Ertrinkender auf einen Rettungsring.
Es war die Sekretärin seines Chefs, die ihn zu einer Besprechung mit dem Chief Superintendent rief. Kincaid zog seine Krawatte stramm, schnappte sich seine Jacke vom Haken und war im nächsten Moment schon zur Tür hinaus, nicht ohne einen Anflug von Bedauern wegen des entgangenen Kaffees.
Chief Superintendent Denis Childs hatte erst kürzlich ein neues Büro bezogen und blickte jetzt aus seinem Fenster auf grüne Parks und den Fluss hinab, doch trotz seiner gehobenen Position hatte er sich seine buddhahafte Gelassenheit bewahrt. Sein rundes, fleischiges Gesicht verriet kaum Gefühlsregungen, aber Kincaid hatte gelernt, auch das leiseste Zucken in den tiefen braunen Augen zu deuten, die fast gänzlich zwischen Hautfalten verborgen waren. Heute entdeckte er darin Abbitte, Verärgerung und möglicherweise eine Spur Besorgnis.
»Tut mir Leid, Ihnen das aufs Auge drücken zu müssen, Duncan«, sagte Childs, dessen Stimme für einen Mann seiner Statur überraschend sanft war.
Kein sehr vielversprechender Auftakt, dachte Kincaid, während er es sich auf einem Stuhl bequem machte. Vielleicht wäre er doch besser bei seinem Papierkram geblieben. »Aber?«
»Aber da Sie im Moment nichts Dringendes zu erledigen haben und da Sie die Gabe haben, erregte Gemüter zu besänftigen …« – Childs’ Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln -, »scheinen Sie mir der richtige Mann für diese Aufgabe.«
»Das wird mir nicht gefallen, habe ich Recht?«
»Sie können es als Herausforderung an Ihre diplomatischen
Fähigkeiten betrachten. Es wird bedeuten, dass Sie als Verbindungsmann zwischen dem Team der Brandermittlung und der Kripo Southwark fungieren müssen. Heute in den frühen Morgenstunden ist in einem Lagerhaus in der Southwark Street ein Feuer ausgebrochen. Kennen Sie die?«
»Die Southwark Street? Das ist nicht weit von der U-Bahn-Station London Bridge Station, nicht wahr? Aber warum wollen Sie mich dorthin schicken?«
»Geduld, mein Freund, Geduld. Dazu komme ich gleich.« Childs lehnte sich in seinem Sessel zurück und presste die Fingerspitzen beider Hände gegeneinander, eine vertraute Geste. »Das Gebäude, um das es geht, stammt aus der Viktorianischen Zeit und wurde gerade zu einer Luxuswohnanlage umgebaut. Das Feuer ist offensichtlich im Erdgeschoss ausgebrochen, doch als die Feuerwehr eintraf, hatte es schon beträchtlichen Schaden in den oberen Stockwerken angerichtet und drohte auf das angrenzende Gebäude überzugreifen.«
»Das Lagerhaus war also leer, nehme ich an, da ja die Renovierungsarbeiten schon im Gang waren?«
»Nicht ganz. Als die Feuerwehrleute hineingingen, stießen sie in den Trümmern auf eine Leiche. Ziemlich übel verbrannt, fürchte ich. Und ohne Papiere.«
»Ein Obdachloser, der dort geraucht hat …«
»Durchaus möglich, obwohl Obdachlose gewöhnlich nicht nackt und ohne
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