Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
blondes Haar trug sie jetzt offen, sodass es die Konturen ihres Gesichts halb verdeckte, doch er hatte keinen Zweifel, dass es sich um die junge Feuerwehrfrau handelte, die er gestern kennen gelernt hatte.
»Ms. Kearny?«, sagte er und ging auf sie zu. »Sie heißen doch Kearny, nicht wahr? Was tun Sie denn hier?«
8
Sie stiegen höher und höher durch den dumpfen Geruch eines alten, wenig benutzten, fest verschlossenen Hauses bis zu einem großen Schlafzimmer im Dachgeschoss.
Charles Dickens, Klein Dorrit
Der helle Fleck wanderte langsam über die Wand hinter Harriets Bett. Lange Zeit folgte sie ihm mit dem Blick und dachte dabei über die Rosen auf der Tapete nach. Es waren alte Rosen, verblasste Rosen, auf einem Hintergrund, der die Farbe von Tee hatte. In ihrer schläfrigen Trance wunderte sie sich kurz darüber, wie ihre Mama vergessen haben konnte, dass sie solche mädchenhaften Blumenmuster eigentlich hasste, doch der Gedanke verflog so rasch wieder, wie er gekommen war.
Sie hatte ein ganz komisches Gefühl, als ob sie über ihrem eigenen Körper schwebte und sich selbst beobachtete, doch als sie einmal versuchsweise mit dem großen Zeh wackelte, stellte sie beruhigt fest, dass er sich ganz normal bewegen ließ. Erst jetzt merkte sie, dass sie noch ihre Schuhe anhatte. Warum war sie denn bloß mit Schuhen ins Bett gegangen?
Stirnrunzelnd schob sie die raue Decke zur Seite, unter der sie lag. Wo war ihre Daunendecke? Und wieso hatte sie noch ihr Sweatshirt an – dasselbe, das sie heute Morgen bei Mrs. Bletchley angezogen hatte, bevor sie in die Schule gegangen war? Moment mal … War das heute Morgen gewesen? Oder doch schon gestern Morgen? Es war dunkel gewesen, und irgendwie wusste sie, dass sie sehr lange geschlafen hatte.
Mit einem Mal erfasste sie wilde Panik, als die Bruchstücke ihrer Erinnerung sich zusammenfügten. Ihr Papa …, die Frau auf dem Beifahrersitz des Autos..., die grauen Wände... Jemand hatte sie eine enge, gewundene Treppe hinauf halb geschleppt, halb getragen … Dann war plötzlich alles dunkel geworden …
Harriet setzte sich mit pochendem Herzen im Bett auf. Ihr Blick wurde von einem Rechteck aus Licht angezogen – das Fenster in der gegenüberliegenden Wand -, doch ihre Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Durch das Fenster fiel Tageslicht, doch es war nicht ihr Fenster. Endlich erfasste ihr Verstand die Wahrheit, der sie sich so lange verweigert hatte. Es war nicht ihr Zimmer.
Sie zwang sich dazu, sich gründlich umzusehen. Mach dir ein Bild von der Situation, hatte ihre Mutter ihr oft eingeschärft – du musst zuerst alle Fakten kennen, bevor du handelst. Das Zimmer war größer als ihr Schlafzimmer zu Hause. Das Fenster befand sich in der Wand gegenüber von ihrem Bett, und in der rechten Wand gab es eine Tür. Die linke Wand war schräg, wie bei einer Dachkammer. Entlang der Wände war ein Sammelsurium alter, ramponierter Möbel aufgereiht, und ein Regal unter der Dachschräge enthielt einige zerfledderte, in Leinen gebundene Bücher. In einer Ecke standen ein Hocker und ein Blecheimer, und neben dem Fenster eine Kommode. Auf der Kommode erblickte sie eine Schüssel und einen Wasserkrug aus Porzellan, mit einem Muster aus verblassten pinkfarbenen Rosen, ähnlich wie die Tapete.
Vorsichtig schlüpfte Harriet aus dem Bett. Sobald sie sich bewegte, stieg ihr wieder der abgestandene, säuerliche Geruch aus der Matratze in die Nase. Und zugleich war auch die Erinnerung an die Dunkelheit wieder da, doch sie schob sie weit von sich.
Die nackten Dielen waren einmal grau gestrichen gewesen,
doch mit der Zeit hatten sie eine schmutzigbraune Farbe angenommen, und die Oberfläche war von Schrammen und Kratzern verunstaltet. Sie trat ganz vorsichtig auf, aus Angst, ein Geräusch zu machen, und ging so bis zum Fenster, um durch die verschmierten, mit Spinnweben überzogenen Scheiben hinauszuschauen.
Hier bot sich ihr ein trostloser Anblick. Sie sah auf einen ungepflasterten Hinterhof hinab, wo zwischen wucherndem Unkraut Müll umherlag. Der Hof war von einer hässlichen grauen Backsteinmauer umschlossen. Dahinter konnte sie die Firste einiger höherer Dächer ausmachen, aber nichts, was ihr bekannt vorkam. Sie versuchte, das Fenster zu öffnen, doch es war vernagelt oder mit Farbe verklebt. Ohnehin hätte sie auf diesem Weg nicht entkommen können – sie konnte sehen, dass es zu hoch war; sie wäre mehrere Stockwerke tief gefallen. Und es sah auch nicht danach
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