Denn niemand hört dein Rufen
gleichgültig. Ich bitte Sie, diesen Fall weiter zu untersuchen, falls es wirklich so weit kommt und Gregg schuldiggesprochen wird. Können Sie denn nicht sehen, was für mich so offensichtlich ist? Jimmy Easton lügt.«
Alice erhob sich und sah sie mit einem durchdringenden Blick an.
»Und ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie genauso darüber denken, Emily.«
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A m Dienstagabend eröffnete Michael Gordon die Diskussionsrunde von Vor Gericht mit der Ankündigung, dass die Geschworenen den ersten Tag ihrer Beratungen hinter sich gebracht hätten, ohne zu einem Urteil zu gelangen. »Wir werden jetzt das Ergebnis der Abstimmung bekanntgeben, bei der sich die Zuschauer auf unserer Webseite entscheiden konnten, ob sie Gregg Aldrich für schuldig oder unschuldig halten.«
Er sah sich unter den Teilnehmern der Runde um. »Und offen gesagt hat uns das Ergebnis alle überrascht. Nach dem letzten Auftritt von Aldrich als Zeuge, bei dem ihn die Staatsanwältin in arge Bedrängnis brachte, hatten wir erwartet, dass sich bei der Meinungsumfrage eine satte Mehrheit für einen Schuldspruch aussprechen würde.«
Sichtlich erleichtert über das Ergebnis, gab Gordon bekannt, dass sich siebenundvierzig Prozent der vierhunderttausend eingegangenen Stimmen für ›nicht schuldig‹ entschieden hätten. »Nur dreiundfünfzig Prozent halten ihn für schuldig«, verkündete er mit dramatischem Unterton.
»Nach so vielen Jahren in diesem Beruf dachte ich eigentlich, ich hätte ein ziemlich gutes Gespür dafür, wie die Leute reagieren, und dann kommt so ein Ergebnis heraus«, sagte Richter Bernard Reilly kopfschüttelnd. »Aber es gibt eben auch noch eine andere Wahrheit, die einen die lange Berufserfahrung lehrt: Man weiß es einfach nie.«
»Falls uns jetzt die Staatsanwältin Emily Wallace zuschaut, wird sie nicht sehr erbaut sein. Mit einer einfachen Mehrheit kommt man im Strafprozess nicht viel weiter«, sagte Michael Gordon. »Jedes Urteil, schuldig oder nicht schuldig, muss einstimmig erfolgen. Wenn die zwölf Geschworenen so denken wie unsere Zuschauer, dann steuern wir auf ein nicht einstimmiges Ergebnis zu und damit auf ein Wiederaufnahmeverfahren.«
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D ie Geschworenen nahmen ihre Beratungen am Mittwochmorgen um neun Uhr wieder auf. Emily versuchte sich auf einige ihrer sonstigen Fälle zu konzentrieren, was ihr aber nicht gelang. Ihr gestriges Gespräch mit Alice Mills hatte ihr eine ziemlich unruhige Nacht beschert.
Mittags ging sie in die Cafeteria des Gerichtsgebäudes, um sich ein Sandwich zu holen, das sie an ihrem Schreibtisch essen wollte. Doch als sie den Raum betrat, bereute sie sogleich, nicht jemanden aus ihrem Büro gebeten zu haben, ihr etwas auf ihr Zimmer zu bringen. Gregg Aldrich, seine Tochter Katie, Richard und Cole Moore sowie Alice Mills saßen an einem Tisch, an dem sie vorbeigehen musste, um zur Theke zu gelangen.
»Guten Tag«, murmelte sie leise, als sie an ihnen vorbeikam. Sie versuchte, den direkten Blickkontakt mit ihnen zu vermeiden, doch der verweinte, ängstlich besorgte Ausdruck auf dem Gesicht der jungen Katie entging ihr nicht.
Das hat sie nicht verdient, dachte Emily. Keine Vierzehnjährige verdient so etwas. Sie ist klug genug, um zu verstehen, dass sie jeden Moment in den Gerichtssaal zurückgerufen werden kann und sich womöglich den Schuldspruch anhören muss, mit dem ihr Vater für den Rest seines Lebens ins Gefängnis geschickt wird.
Emily bestellte ein Truthahnsandwich und Diätlimonade. Zurück in ihrem Büro, knabberte sie ein bisschen an
ihrem Sandwich und legte es dann wieder zurück. Eben hatte ihr noch der Magen geknurrt, doch der Anblick von Katie Aldrich hatte ihr jeglichen Appetit geraubt.
Alice Mills. Emilys Gedanken kehrten zu ihr zurück. Wenn ich nun bei unserem ersten Gespräch im April von seiner Unschuld überzeugt gewesen wäre, hätte ich dann irgendetwas anders gemacht?
Die Vorstellung bereitete ihr große Sorgen. Billy Tryon und Jake Rosen hatten den größten Teil der Ermittlungen in diesem Fall durchgeführt, einschließlich des Verhörs von Jimmy Easton und der Überprüfung der einzelnen Fakten aus seiner Geschichte. Es stand außer Frage, dass Gregg Aldrich ihn auf seinem Handy angerufen hatte, ebenso stand außer Frage, dass er Aldrichs Wohnzimmer zutreffend beschrieben hatte.
Andererseits konnte ein großer Teil seiner Geschichte nicht belegt werden. Gregg Aldrich bestritt kategorisch, jemals einen Brief von Easton erhalten zu haben, in
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