Denn rein soll deine Seele sein
Adler ab. Da hatte er sich ja ganz schön lächerlich gemacht. Seine Aufgabe war es, in einem Fall von Vergewaltigung zu ermitteln. Kein Mensch hatte von ihm verlangt, einen Annäherungsversuch bei einer Frau zu starten, die erstens fromm und zweitens zwölf Jahre jünger war als er. Er griff nach einem Bleistift und begann gedankenvoll damit zu spielen. Schluß mit dem Selbstmitleid, befahl er sich. Ist alles halb so wild. Aber das gute Zureden half nicht. Er kam sich alt und schäbig vor.
Das Telefon läutete. Er atmete tief ein. »Decker!«
Am anderen Ende hörte man lautes Surren. »Hi«, sagte jemand. Eine Frauenstimme, jung, höchstens um die Zwanzig.
Decker trommelte mit dem Bleistift auf die Schreibtischplatte. »Was kann ich für Sie tun?«
»Sind Sie der Beamte, der diese Sittlichkeitsverbrechen in Foothill bearbeitet?«
Decker schnellte hoch und angelte sich einen Zettel. »Ja, das bin ich, Mrs. -?«
»Es geht um die letzte Frau, die vergewaltigt worden ist, die Bibliothekarin...«
»Ja?« sagte Decker ermutigend. Die Anruferin war über dem summenden Hintergrundgeräusch kaum zu verstehen.
»Wie hieß sie doch gleich, Ball oder Bell... Es stand in der Zeitung...«
»Ja, was ist mit ihr?«
»Hat sie - äh - hat sie vielleicht schwarzweiße, hochhackige Pumps angehabt?«
Decker versuchte, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen, die ihn gepackt hatte. »Das kann schon sein. Wissen Sie was? Am besten kommen Sie mal bei uns vorbei, und wir sehen gemeinsam nach, Mrs. -?«
Aber die Anruferin hatte schon aufgelegt.
»Verdammter Mist«, sagte Decker laut und vernehmlich. Dann wählte er rasch die Zentrale.
»Hier Peter Decker. Sag mal, Arnie, kannst du feststellen, von wo der letzte Anruf kam, der bei mir eingegangen ist? Die Frau hat vor einer Sekunde aufgelegt.«
»Moment, ich rufe gleich zurück.«
Decker wartete. Die Frage der Anruferin hatte genau ins Schwarze getroffen. Das letzte Opfer des Sittenstrolchs von Foothill hatte tatsächlich schwarzweiße, hochhackige Pumps angehabt, und von Rechts wegen hätte das nur der Polizei bekannt sein dürfen. Daß der Kerl ein Schuhfetischist war, hatte man der Presse wohlweislich verschwiegen.
Er wußte genau, daß er ihre Stimme schon mal gehört hatte; unter den Hunderten anonymer Hinweise, die seit Beginn der Vergewaltigungsserie eingegangen waren, hatte er sie im Gedächtnis behalten. Er notierte Datum, Zeit und Inhalt des Gesprächs sowie das Hintergrundgeräusch und legte den Zettel zu den Akten. Auf seinem Schreibtisch trieb sich ein halbleeres Aspirinröhrchen herum. Er spülte zwei Tabletten mit einem Schluck kalten Kaffee herunter. Dann stand er auf und holte sich die Berichte über die Fälle von mutwilliger Zerstörung in der Jeschiwa aus den Akten.
Viel gaben sie nicht her. Eingeworfene Fensterscheiben, umgekippte Mülltonnen, an die Wände gesprühte Hakenkreuze und Obszönitäten. Scheißjuden, Schwanzlecker, Kinderschlächter, Kannibalen, Jesusmörder. Vielleicht hätte er die Zwischenfälle ernster nehmen sollen. Ein paar ortsbekannte Halbstarke waren vernommen worden, aber es hatte keine Verhaftungen gegeben.
Decker setzte sich wieder an den Schreibtisch. Antisemitismus war nichts Neues für ihn. In Gainesville, wo er aufgewachsen war, gab es kaum Kontakte mit Juden, wohl aber massive Vorurteile. Für die braven Bürger von Gainesville war das dekadente Miami ein rotes Paradies für Juden, Spione und Nigger. Seine erste persönliche Erfahrung in dieser Hinsicht hatte er als Vierzehnjähriger gemacht. Einer seiner Freunde war von einem jüdischen Mitschüler, einem großen, kräftigen Jungen, der ganz und gar nicht in das gängige Schema paßte, aus der ersten Football-Liga der Schule verdrängt worden. An diesem Tag liefen Decker und seine Freunde dem Jungen außerhalb der Schule über den Weg. Es kam zu einer handfesten Schlägerei, bei der Decker sich zunächst passiv verhielt, bis er merkte, daß der jüdische Junge der Übermacht klar unterlegen war. Da machte er - schon damals groß und mit Muskeln bepackt, um die Erwachsene ihn hätten beneiden können – dem ungleichen Kampf ein Ende.
Beim Abendessen hatte er seinen Eltern davon erzählt. Sein Vater, ein großer, schweigsamer Mann, hatte nur gesagt: »Wenn einer dich bedroht oder deine Familie oder dein Land, mußt du dich wehren, und dann lohnt auch der Kampf. Aber einen Menschen seiner Abstammung wegen zu bekämpfen, das ist falsch, und das ist dumm.« Seine Mutter
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