Denn rein soll deine Seele sein
an?« fragte Decker.
»Den liest man natürlich zu Purim.«
»Natürlich«, wiederholte Decker.
»Mein Lieblingsfeiertag«, erläuterte Jake. »Wir verkleiden uns, und nach der Lesung der Megilla gibt es ein tolles Purimfest in der schul. Die großen Jungs betrinken sich und müssen sich übergeben, es ist gräßlich ordinär, aber auch sehr komisch. Am nächsten Tag kriegt man von seinen Freunden Süßigkeiten und stopft sich voll.«
»Man darf sich betrinken?« staunte Peter.
»Man muß sich betrinken«, stellte Sammy richtig.
»Nicht betrinken«, wandte Rina ein. »Manche sind vielleicht ein bißchen angeheitert...«
»Man soll trinken, bis man nicht mehr weiß, ob man Mordechai hochleben läßt oder Haman ausbuht, und dann ist man doch betrunken, Ima.«
»Daß ihr es in der Jeschiwa so ausgelassen treibt, kann ich mir gar nicht vorstellen«, sagte Decker.
Sammy hatte sich in Schwung geredet. »Es ist richtig aufregend. Die älteren Jungs jonglieren mit Flaschen oder balancieren sie auf dem Kopf.«
»Wenn sie betrunken sind?«
Jake lachte. »Es gibt immer einen Haufen Scherben. Letztes Jahr hat sich einer der Rabbis als Haman verkleidet, und wir haben mit matschigen Tomaten nach ihm geworfen.«
»Haman ist demnach ein Bösewicht, ja?« fragte Decker.
»Und was für einer«, bekräftigte Sammy. »Er war einer von Hitlers Vorfahren.«
»Im Ernst?«
Rina lächelte. »So heißt es. Zumindest waren sie geistesverwandt. Allesamt Amalek.«
Deckers Gesicht verdüsterte sich. »Was heißt das?«
»Zur Zeit der ägyptischen Gefangenschaft des Volkes Israel gab es den Volksstamm der Amalekiter. Sie waren bösartig und gemein zu den Juden, als die Ägypten verließen. Jetzt steht dieser Ausdruck für Menschen oder Gruppen, die sich die restlose Zerstörung des jüdischen Volkes zum Ziel gesetzt haben. Yassir Arafat zum Beispiel ist in meinen Augen Amalek.«
Decker schwieg.
»Ist was, Peter?«
»Nein, nein.« Er holte ein weiteres Buch aus dem Karton. Sammy nahm es ihm ab. »Das ist bava metzia, das lern ich in diesem Jahr.«
»In der Familie deiner Frau muß es einen Gelehrten gegeben haben«, sagte Rina. »Das ist der Talmud, mit dem man sich in der Jeschiwa beschäftigt.«
»Ich habe in einem zweiten Koffer eine vollständige Ausgabe solcher Bücher, die alle diese eigenartige Textanordnung haben, einen großen Block auf aramäisch, und drum herum viele Spalten in hebräischer Sprache. Was ist das?«
»Der große Block in aramäischer Sprache ist die Rechtsfrage, die behandelt wird. In diesem Band ist von den gesetzlichen Bestimmungen über Fundsachen die Rede.«
»Das ist also keine Bibel?«
»Nein. Es ist eine Abhandlung über jüdisches Straf- und Zivilrecht.«
»Und was steht in diesen Spalten?«
»Das sind Kommentare, unterschiedliche Auslegungen des Gesetzes.«
»Und nach diesen Gesetzen richtet ihr euch?«
»Natürlich, dafür sind wir ja Thorajuden.«
»Wie ist denn das alles entstanden?«
»Die ursprünglichen Gebote hat Moses von Gott auf dem Berg Sinai bekommen. Einige wurden niedergeschrieben, andere mündlich weitergegeben. Später wurden auch die mündlich überlieferten Gebote schriftlich niedergelegt und von den Amoraim, einer Gruppe herausragender Rabbis, interpretiert. Endgültig wurden die Gesetze dann durch rabbinisches Votum zwischen dem dritten und sechsten Jahrhundert entschieden.«
Decker schwieg. Sie wußte, woran er dachte. »Die Probleme unserer Zeit müssen natürlich berücksichtigt werden. Die Frage, ob wir am Schabbes Strom einschalten dürfen, taucht im Talmud nicht auf.«
»Wer hat sie entschieden?«
»Die Gelehrten unserer Tage.«
»Und wie lautet die Antwort?«
»Nein. Es ist gewissermaßen dasselbe wie das Anschüren von Feuer, und das ist am Schabbes verboten. Das bedeutet nicht, daß wir am Freitagabend im Dunkeln sitzen. Wir lassen das Licht brennen, wenn am Freitagabend die Sonne untergeht, manche lassen auch die Beleuchtung über eine Zeitschaltuhr regeln. Wir dürfen nur nicht selbst zum Schalter greifen.«
»Das scheint mir alles sehr kompliziert zu sein«, meinte Decker.
»Dafür gibt es die Jeschiwot. Um alles zu lernen, braucht man ein Menschenleben.«
»Es ist so langweilig«, sagte Jake. »Darf ich den Fernseher anmachen?«
»Geh ein bißchen vor die Tür und spiel mit Ginger«, meinte Peter. »Sie sieht auch aus, als ob es ihr langweilig sei.«
Rina nickte ihrem Sohn zu, und er lief mit dem Hund hinaus.
Decker sah Sammy an, der sich
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