Denn vergeben wird dir nie
fühlt.«
Wohler fühlt, dachte ich, oder etwa, damit du ihn daran
hindern kannst, etwas zu sagen, was ihn beschuldigen
könnte? Nein, das glaubte ich nicht. »Ich werde kommen,
Mrs. Stroebel«, sagte ich. »Wenn ich vor Ihnen da bin,
werde ich auf Sie warten, bevor ich zu Paulie gehe.«
»Danke, Ellie.«
Es klang so viel Dankbarkeit darin, dass ich mich für den
Gedanken schämte, sie wolle Paulie möglicherweise daran
hindern, aufrichtig zu mir zu sein. Schließlich war sie es
gewesen, die mir Paulies Wunsch mitgeteilt hatte, und im
Moment setzte sich ihr Tagesablauf ausschließlich aus den
Stunden im Laden und den Besuchen am Krankenbett
ihres Sohnes zusammen. Gott bewahrt das geschorene
Lamm vor dem kalten Wind. Und er tut solches am
wirkungsvollsten, wenn er jemandem wie Paulie eine
Mutter wie Anja Stroebel schickt.
Ich brachte es fertig, zwei Stunden zu arbeiten, dann
wechselte ich zu Rob Westerfields Website. Das Bild, wie
ich gefesselt auf dem Bett lag, wurde immer noch gezeigt,
und das »Aktionskomitee Gerechtigkeit für Rob
Westerfield« wies ein paar Namen mehr auf. Dagegen war
keinerlei Versuch unternommen worden, meinen Artikel
über Robs Verwicklung in den Mordversuch an seiner
Großmutter zu widerlegen.
Daraus zog ich den Schluss, dass ich Verwirrung in den
Reihen der Gegner gestiftet hatte. Sie waren noch am
Überlegen, was nun weiter geschehen sollte.
Um elf Uhr klingelte das Telefon. Es war Joan.
»Möchtest du mit mir zu Mittag essen, so um eins?«,
fragte sie. »Ich muss ein paar Besorgungen machen, und
gerade ist mir aufgefallen, dass ich praktisch bei dir
vorbeikomme.«
»Ich kann nicht. Ich habe schon versprochen, Paulie um
ein Uhr im Krankenhaus zu besuchen«, sagte ich, um dann
zögernd hinzuzufügen: »Aber, Joan …«
»Was ist los, Ellie? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, mir geht es gut. Joan, du hast mir erzählt, dass du
die Todesanzeige für meine Mutter aufgehoben hast, die
mein Vater in die Zeitung gesetzt hat.«
»Ja. Ich wollte sie dir noch zeigen.«
»Ist es sehr umständlich, sie herauszusuchen?«
»Nein, kein Problem.«
»Dann würde ich dich bitten, sie am Empfang für mich
zu hinterlegen, wenn du am Gasthaus vorbeikommst. Ich
würde sie sehr gerne sehen.«
»Wird bestens erledigt.«
Als ich beim Krankenhaus anlangte, herrschte in der
Eingangshalle ein eifriges Kommen und Gehen. Ich
bemerkte eine Gruppe von Reportern und Kameraleuten,
die am anderen Ende des Raums standen, und wandte
ihnen rasch den Rücken zu.
Eine Frau, die neben mir in der Warteschlange stand, um
einen Besucherpass zu erhalten, erzählte mir, was
geschehen war. Mrs. Dorothy Westerfield, die Großmutter
von Rob, sei nach einem Herzanfall in die Notaufnahme
eingeliefert worden.
Ihr Anwalt habe eine Pressemitteilung herausgegeben
mit dem Inhalt, dass Mrs. Westerfield am vergangenen
Abend zum bleibenden Gedenken an ihren verstorbenen
Gatten, Senator Pearson Westerfield, ihr Testament
geändert habe und ihr Vermögen einer wohltätigen
Stiftung hinterließ, welche beauftragt sei, es innerhalb von
zehn Jahren zu verteilen.
Weiterhin sei mitgeteilt worden, einzige Ausnahmen
seien kleine Vermächtnisse an ihren Sohn, einige Freunde
und langjährige Angestellte. Ihrem Enkel hinterließe sie
lediglich einen Dollar.
»Sie ist sehr klug gewesen, wissen Sie«, vertraute mir
die Frau an. »Ich hab zugehört, als die Journalisten
miteinander sprachen. Neben ihren Anwälten hatte sie
ihren Pfarrer, einen befreundeten Richter und einen
Psychiater als Zeugen dafür aufgeboten, dass sie bei
klarem Verstand war und genau wusste, was sie tat.«
Sicher ahnte meine klatschsüchtige Gesprächspartnerin
nicht, dass meine Website vermutlich für die Testaments
änderung wie auch den Herzanfall verantwortlich war. Für
mich war es ein zweischneidiger Sieg. Ich dachte an die
liebenswürdige, beeindruckende Frau, die am Tage von
Andreas Begräbnis gekommen war, um ihr Beileid zu
bekunden.
Erleichtert atmete ich auf, als ich in den Aufzug gelangt
war, ohne dass mich einer der Reporter erkannt und mit
dem Ereignis in Zusammenhang gebracht hatte.
Mrs. Stroebel wartete im Gang auf mich. Zusammen
betraten wir Paulies Zimmer. Die Verbände an den Armen
waren jetzt wesentlich kleiner. Sein Blick war klarer, und
sein Lächeln war herzlich. »Meine Freundin Ellie«, sagte
er.
»Auf dich kann ich mich verlassen.«
»Ja, Paulie, das kannst du.«
»Ich möchte nach Hause. Ich
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