Denn vergeben wird dir nie
und beugte
mich vor.
Die restlichen Fragen hätte man jedoch genauso gut
jemandem stellen können, der gerade aus einer längeren
Geiselhaft befreit worden war. »Abgesehen von Ihrer
Rehabilitierung, worauf freuen Sie sich besonders?«
»Nach New York fahren. Essen gehen in Restaurants,
die es vor zweiundzwanzig Jahren vermutlich noch nicht
gegeben hat. Später dann reisen. Einen neuen Job suchen.«
Er lächelte breit. »Die Frau meines Lebens kennen
lernen. Heiraten. Kinder kriegen.«
Heiraten. Kinder kriegen. Alles Dinge, die Andrea
niemals hatte erleben dürfen.
»Was werden Sie heute zu Abend essen, und wer wird
alles dabei sein?«
»Nur wir vier – meine Mutter, mein Vater, meine
Großmutter und ich. Wir wollen heute als wiedervereinte
Familie unter uns sein. Ich habe mir ein ziemlich einfaches
Essen gewünscht: Krabbencocktail, Rinderbraten,
gebackene Kartoffeln, Broccoli und Salat.«
Wie war’s mit Apfelkuchen?, dachte ich.
»Und Apfelkuchen«, schloss er die Aufzählung.
»Und Champagner, nehme ich an.«
»Selbstverständlich.«
»Wie es scheint, haben Sie schon recht genaue Pläne für
die Zukunft, Rob Westerfield. Wir wünschen Ihnen viel
Glück und hoffen, dass Sie bei einem zweiten Prozess Ihre
Unschuld beweisen können.«
Und so was schimpft sich Journalistin. Ich drückte
ärgerlich auf den Einschaltknopf und ging zum Esstisch,
auf dem mein Laptop bereitstand. Ich lud meine Website
auf den Bildschirm und begann zu schreiben.
»Robson Westerfield, der verurteilte Mörder der
fünfzehnjährigen Andrea Cavanaugh, wurde heute aus
dem Gefängnis entlassen und darf sich auf Rinderbraten
und Apfelkuchen freuen. Die Seligsprechung dieses
Mörders wurde soeben eingeleitet, und sie wird auf Kos
ten seines jugendlichen Opfers und von Paulie Stroebel
vollzogen werden, einem ruhigen, hart arbeitenden
Menschen, der in seinem bisherigen Leben schon viele
Schwierigkeiten zu überwinden hatte.
Man sollte ihm ersparen, auch diese noch überwinden zu
müssen.«
Nicht schlecht für den Anfang, dachte ich.
19
TAGTÄGLICH VERLASSEN STRAFGEFANGENE das
Sing-Sing-Gefängnis, die entweder ihre Strafe abgesessen
haben oder auf Bewährung entlassen werden. Sie erhalten
Jeans, Arbeitsschuhe, eine Jacke, vierzig Dollar, und falls
sie nicht von Familienangehörigen oder Freunden abgeholt
werden, bringt man sie zum Busbahnhof oder löst ihnen
eine Zugfahrkarte.
Der Bahnhof befindet sich etwa vier Häuserblocks vom
Gefängnis entfernt. Der entlassene Häftling läuft zum
Bahnhof und nimmt einen Zug nach Norden oder einen
nach Süden.
Der nach Süden fahrende Zug endet in Manhattan. Der
nach Norden fahrende durchquert den ganzen Staat New
York bis Buffalo.
Ich hatte die Überlegung angestellt, dass fast jeder, der
zurzeit aus Sing-Sing freikäme, etwas über Rob Wester
field wissen müsse.
Aus diesem Grund zog ich mich am nächsten Morgen
warm an, ließ den Wagen am Bahnhof stehen und ging zu
Fuß zum Gefängnis. Am Tor herrschte ein ständiges
Kommen und Gehen. Ich hatte einige Zahlen
nachgeschaut und wusste, dass an die zweitausend
dreihundert Häftlinge dort untergebracht waren. Jeans,
Arbeitsschuhe und eine Jacke sind keine besonders
auffälligen Kleidungsstücke. Würde ich überhaupt
zwischen einem Angestellten, dessen Dienst gerade zu
Ende gegangen war, und einem frisch entlassenen
Gefangenen unterscheiden können?
Da ich dieses Problem voraussah, hatte ich mir ein
großes Schild aus Karton gebastelt. Ich stellte mich neben
dem Gefängnistor auf und hielt es vor die Brust. Zu lesen
stand darauf: »Journalistin sucht gegen angemessene
Belohnung Informationen über den soeben entlassenen
Gefangenen Robson Westerfield.«
In der Zwischenzeit war mir eingefallen, dass jemand,
der im Auto oder im Taxi aus dem Gefängnis fuhr, oder
aber jemand, der nicht gesehen werden wollte, wenn er
mit mir sprach, eventuell mit mir telefonisch Kontakt
aufnehmen würde. Im letzten Augenblick hatte ich daher
meine Handynummer -917-555-1261- in großen, weithin
lesbaren Ziffern hinzugefügt.
Es war ein kalter, windiger Morgen. Der erste
November. Allerheiligen. Seit dem Tod meiner Mutter
hatte ich die Messe nur an Feiertagen wie Weihnachten
und Ostern besucht, wenn selbst vom Glauben abgefallene
Katholiken wie ich die Glocken einer nahe gelegenen
Kirche hören und widerstrebend ihre Schritte dorthin
lenken.
Ich fühle mich wie ein Roboter, wenn ich in der Kirche
bin. Ich knie
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