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Denn vergeben wird dir nie

Denn vergeben wird dir nie

Titel: Denn vergeben wird dir nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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nieder und stehe auf wie alle anderen, ohne
an den Gebeten teilzunehmen. Ich singe gern, und ich
spüre ein Kribbeln in der Kehle, wenn die Gemeinde in
den Chorgesang einfällt. An Weihnachten sind es
fröhliche Lieder:
    »Höret der Engel Gesang« oder »Dort in der Krippe
liegend«. An Ostern ist der Gesang triumphierend:
»Christus ist heut erstanden«. Aber meine Lippen bleiben
immer verschlossen. Den Jubelgesang überlasse ich den
anderen.
    Früher war ich voller Wut; jetzt spüre ich nur noch
Überdruss. Auf die eine oder andere Weise hast du sie mir
alle genommen, o Herr. Bist du jetzt zufrieden? Wenn ich
im Fernsehen von ganzen Familien erfahre, die im
Bombenhagel umgekommen sind, oder mit Bildern von
hungernden Menschen in Flüchtlingslagern konfrontiert
werde, dann ist mir zwar bewusst, um wie vieles besser es
mir ergangen ist. Intellektuell kann ich es begreifen, aber
es hilft mir letztlich nicht weiter. Lass uns eine
Vereinbarung treffen, Gott. Lass uns beschließen, uns
gegenseitig in Ruhe zu lassen.
    Zwei Stunden lang stand ich mit dem Schild am Tor. Die
meisten Menschen, die ein- oder ausgingen, starrten voller
Neugier darauf. Einige sprachen mich an. Ein dicker Mann
um die fünfzig, der die Ohrenklappen seiner Mütze wegen
der Kälte herabgelassen hatte, fuhr mich an: »Junge Frau,
haben Sie nichts Besseres zu tun, als sich mit diesem
Dreckskerl zu befassen?« Er verriet nur so viel, dass er im
Gefängnis arbeite, wollte mir aber seinen Namen nicht
nennen.
    Immerhin fielen mir ein paar Leute auf, darunter auch
solche, die wie Angestellte aussahen, die das Schild
betrachteten, als ob sie sich die Nummer einprägen
wollten.
    Um zehn war ich bis auf die Knochen durchgefroren,
ließ es gut sein und lief zum Parkplatz vor dem Bahnhof
zurück. Gerade wollte ich die Tür zu meinem Wagen
öffnen, als ein Mann auf mich zukam. Er schien um die
dreißig zu sein, knochig, mit unangenehmem Blick und
schmalen Lippen. »Warum hacken Sie auf Westerfield
herum?«, fragte er. »Was hat er Ihnen getan?«
    Er trug Jeans, eine Jacke und Arbeitsschuhe. War er
gerade entlassen worden und mir gefolgt? »Sind Sie ein
Freund von ihm?«, fragte ich.
»Was geht Sie das an?«
     
Wenn einem jemand zu nahe kommt, sich direkt vor
einem aufpflanzt, tritt man instinktiv einen Schritt zurück.
    Ich stand mit dem Rücken an die Fahrertür gelehnt, und
der Kerl bedrängte mich. Aus den Augenwinkeln
bemerkte ich zu meiner Erleichterung, wie ein Auto auf
den Parkplatz einbog. Mir fuhr durch den Kopf, dass
zumindest jemand in der Nähe sein würde, falls ich Hilfe
brauchte.
»Ich möchte jetzt in mein Auto steigen, und Sie stehen
mir im Weg«, sagte ich.
    »Rob Westerfield war ein vorbildlicher Gefangener. Wir
haben alle zu ihm aufgeschaut. Er war ein großes Vorbild
für uns. Na, was ist Ihnen diese Information wert?«
    »Dafür können Sie sich Ihr Geld bei ihm selbst
abholen.« Ich drehte mich um und drängte dabei den Kerl
von mir ab, drückte auf die Fernbedienung, um das
Schloss zu öffnen, und zog die Tür auf.
    Er versuchte nicht, mich aufzuhalten, aber bevor ich die
Tür zuschlagen konnte, sagte er noch: »Ich gebe Ihnen
einen guten Rat, und zwar gratis: Verbrennen Sie dieses
Schild.«

20
    ZURÜCK IN MRS. HILMERS Wohnung, begann ich die
alten Zeitungen, die meine Mutter aufgehoben hatte, zu
durchforsten. Für meine Recherche über Rob Westerfields
Leben waren sie ein Geschenk des Himmels. In mehreren
von ihnen wurden die beiden Privatschulen erwähnt, die er
besucht hatte. Die erste, Arbinger Preparatory School in
Massachusetts, ist eine der angesehensten des ganzen
Landes. Interessanterweise war er dort nur anderthalb
Jahre geblieben und dann nach Carrington in Rhode Island
gewechselt.
    Ich wusste nichts über Carrington und sah im Internet
nach. Auf der Website der Carrington Academy konnte
man den Eindruck gewinnen, es handle sich um ein
Landgut, auf dem durch das Zusammenwirken von
Lernen, Sport und Kameradschaft wahrhaft paradiesische
Zustände herrschten. Doch hinter den Lobpreisungen der
großartigen Dinge, die dort geboten wurden, zeichnete
sich der Kern der Sache ab: Es war eine Anstalt für
»Schüler, die ihr Lernpotenzial oder ihre sozialen
Fähigkeiten noch nicht genügend ausgeschöpft haben«, für
»Schüler, deren Fähigkeit zu diszipliniertem Lernen noch
ausgebaut werden muss«.
    Mit anderen Worten, es war eine Einrichtung für

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