Denn vergeben wird dir nie
und ich waren ungefähr ein Jahr in
Denver.«
»Sie leben jetzt schon eine Weile in Atlanta, Ellie.
Fühlen Sie sich inzwischen dort zu Hause?«
»Es ist eine prima Stadt. Ich habe eine Menge gute
Freunde dort. Ich mache meinen Job gerne, aber wenn das
Blatt, für das ich arbeite, verkauft wird, wie es gerüchte
weise heißt, dann bin ich nicht sicher, ob ich dort bleiben
werde. Vielleicht werde ich eines schönen Tages ja auch
einmal das angenehme Gefühl genießen, irgendwo
Wurzeln zu schlagen. Bisher hatte ich es noch nicht. Ich
habe immer das Gefühl, dass irgendetwas noch nicht
erledigt ist. Sind Sie als Kind manchmal ins Kino
gegangen, obwohl Ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht
waren?«
»Sicher.«
»Und Sie haben bestimmt den Film nicht richtig
genießen können, stimmt’s?«
»Es ist lange her, aber Sie haben wahrscheinlich Recht.«
»Ich habe noch Hausaufgaben zu erledigen, bevor ich
den Film genießen kann«, sagte ich.
ICH HATTE KEIN LICHT eingeschaltet, bevor ich
weggegangen war, und als wir über das Anwesen von
Mrs. Hilmer fuhren, lag die Wohnung über der Garage
dunkel und verlassen da. Marcus Longo ignorierte meinen
Protest und bestand darauf, mich bis nach oben zu
bringen. Er wartete, während ich nach dem Schlüssel
suchte, und als ich aufsperrte und in die Wohnung trat,
sagte er bestimmt:
»Schließen Sie zweimal ab.«
»Irgendein besonderer Grund?«, fragte ich.
»›Seht euch vor! Ihr lasst einen Mörder frei.‹ Ihre Worte,
Ellie.«
»Das stimmt.«
»Dann hören Sie auf Ihre Stimme. Ich rate Ihnen nicht,
Westerfield in Ruhe zu lassen, aber ich rate Ihnen sehr
wohl, vorsichtig zu sein.«
Ich war gerade noch rechtzeitig nach Hause gekommen,
um die Zehn-Uhr-Nachrichten zu sehen. Der Aufmacher
war, dass Rob Westerfield am Morgen aus dem Gefängnis
entlassen werden sollte und dass es um zwölf Uhr mittags
ein Pressegespräch im Haus der Familie in Oldham geben
würde.
Um nichts in der Welt möchte ich das verpassen, dachte
ich.
18
ES FIEL MIR NICHT LEICHT, in dieser Nacht Schlaf zu
finden. Ich dämmerte vor mich hin, wachte dann wieder
auf mit dem Gedanken, dass mit jeder Sekunde der
Augenblick näher rückte, in dem Rob Westerfield aus dem
Gefängnis entlassen werden würde.
Ich konnte meine Gedanken nicht von ihm und dem
Ereignis lösen, das ihn für zweiundzwanzig Jahre hinter
Gitter gebracht hatte. Im Gegenteil, je näher seine Freilas
sung rückte, desto lebendiger standen mir Andrea und
meine Mutter vor Augen. Wenn doch … wenn … wenn …
Hör auf, schrie eine innere Stimme. Lass es hinter dir. Es
ist Vergangenheit. Du weißt, was du deinem Leben antust,
und es ist nicht das, wonach du dich sehnst. Gegen zwei
Uhr morgens stand ich auf und machte mir eine Tasse
Kakao. Ich setzte mich damit ans Fenster. Der Wald
zwischen unserem Haus und dem Anwesen der alten
Mrs. Westerfield erstreckte sich auch hinter Mrs. Hilmers
Grundstück. Er war immer noch da, eine Pufferzone für
ihre Privatsphäre. Ich hätte, wie Andrea damals, den Wald
durchqueren und auf der anderen Seite zum Garagen
versteck schleichen können.
In der Zwischenzeit war ein hoher Zaun errichtet
worden, der das mehrere Hektar umfassende Grundstück
umschloss. Sicherlich war auch eine Alarmanlage
installiert worden, die jeden Eindringling, auch ein
fünfzehnjähriges Kind, signalisiert hätte. Mit zweiund
neunzig Jahren braucht man nicht mehr viel Schlaf. Ich
fragte mich, ob Mrs. Westerfield ebenfalls wach war, froh
darüber, dass man ihren Enkel aus dem Gefängnis entließ,
aber schaudernd bei dem Gedanken an all das Aufsehen,
das dadurch verursacht würde. Ihr Bedürfnis, die Schmach
der Familie zu tilgen, war ebenso mächtig wie mein
Wunsch, dafür zu sorgen, dass Paulie Stroebels Leben
nicht zerstört und Andreas Name nicht in den Schmutz
gezogen wurde.
Sie war ein unschuldiges, junges Mädchen, der Rob den
Kopf verdreht hatte; aber dann hatte sich ihre Schwär
merei für ihn in Angst verwandelt, und nur deswegen war
sie an jenem Abend zum Versteck gegangen. Sie hatte
Angst davor gehabt, sich nicht dort blicken zu lassen,
nachdem er ihr befohlen hatte, sich mit ihm zu treffen.
Während ich in den Stunden vor Tagesanbruch dasaß,
wurde mein zunächst unbestimmtes Gefühl, dass sie Angst
vor ihm gehabt haben musste, immer mehr zu einer
Gewissheit. Ich sah Andrea vor mir, wie sie sich gefühlt
haben musste an diesem Abend, im Dunkeln, den
Anhänger
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