Denn vergeben wird dir nie
obendrauf. Die dicke gebundene Kopie des
Prozessprotokolls lag, zusammen mit leuchtend gelben
Markierstiften, neben dem Drucker.
Und wenn mich Mrs. Hilmer aus irgendeinem Grund
zurückbegleiten würde und diese Unordnung sähe?, dachte
ich. Wie würde sie reagieren? Über die Antwort auf diese
Frage war ich mir ziemlich sicher, da es in ihrem Haus
buchstäblich nichts gab, was nicht an seinem Platz stand.
Ich bückte mich nach den Zeitungen und ordnete sie
mehr schlecht als recht zu einem Stapel. Dann holte ich
nach weiterer Überlegung die große Reisetasche hervor, in
der ich sie transportiert hatte, und stopfte sie hinein.
Das Prozessprotokoll folgte. Was Terminkalender,
Füller, Laptop und Drucker betraf, gelangte ich zu der
Überzeugung, dass sie ästhetisch nicht allzu abstoßend
wirkten. Die Obstschale und die Kerzenhalter schob ich
wieder in ihre dekorativen Ausgangspositionen auf dem
Tisch zurück. Ich wollte die Reisetasche gerade im
Schrank verstauen, als mir der Gedanke durch den Kopf
ging, dass all dieses Material verloren wäre, falls in der
Wohnung Feuer ausbrechen würde. Ich tat diese
Möglichkeit zwar im nächsten Augenblick als äußerst
unwahrscheinlich ab, beschloss aber dennoch, die Tasche
mitzunehmen. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe,
ich tat es einfach. Sagen wir, es war eine Vorahnung, oder,
wie meine Großmutter immer sagte, so ein »komisches
Gefühl«, das man plötzlich bekommt.
Draußen war es immer noch kalt, aber zumindest hatte
sich der Wind gelegt.
Dennoch erschien mir der Weg von der Wohnung bis
zum Haus ziemlich weit. Mrs. Hilmer hatte mir erzählt,
dass sie nach dem Tod ihres Mannes eine Garage an das
Haus habe anbauen lassen, weil sie nicht immer bis zu der
alten Garage habe laufen wollen. Jetzt stand die alte
Garage unter der Gästewohnung leer bis auf Gartengeräte
und -möbel.
Als ich in der stillen Dunkelheit zum Haus ging, konnte
ich gut verstehen, dass sie den Weg nachts nicht mehr
alleine gehen wollte.
»Bitte denken Sie nicht, dass ich hier auch noch
einziehen möchte«, sagte ich zu Mrs. Hilmer, als sie die
Tür öffnete und meine Reisetasche sah. »Neuerdings gehe
ich nie ohne Tasche aus dem Haus.«
Bei einem Glas Sherry erzählte ich ihr, was die Tasche
enthielt, und dabei kam mir eine Idee. Mrs. Hilmer wohnte
seit fast fünfzig Jahren in Oldham. Sie war in der
Kirchengemeinde und bei städtischen Veranstaltungen
aktiv – das bedeutete, dass sie praktisch jeden kannte. In
den Zeitungsartikeln wurden Leute aus dem Ort erwähnt,
deren Namen mir nichts sagten, ihr aber sicherlich
geläufig waren.
»Ich möchte Sie fragen, ob Sie eventuell bereit wären,
diese Artikel mit mir durchzugehen«, bat ich. »Es werden
dort Leute erwähnt, mit denen ich sehr gerne sprechen
würde, falls es sie noch gibt. Zum Beispiel einige von
Andreas Freundinnen aus der Schule, die damaligen
Nachbarn von Will Nebels, einige von den Typen, mit
denen sich Rob Westerfield damals herumgetrieben hat.
Sicherlich haben die meisten von Andreas Klassen
kameraden inzwischen geheiratet, und vermutlich sind
viele weggezogen. Ich weiß nicht, ob es zu viel verlangt
wäre, wenn ich Sie bitte, einmal diese alten Artikel
durchzugehen und vielleicht eine Liste von den Leuten
aufzustellen, die damals mit Reportern geredet haben und
immer noch in der Gegend wohnen. Ich habe die
Hoffnung, dass vielleicht der eine oder andere noch
irgendetwas weiß, was damals nicht bekannt wurde.«
Ȇber eine von ihnen kann ich Ihnen sofort etwas
erzählen«, sagte Mrs. Hilmer. »Joan Lashley. Ihre Eltern
sind in Rente, aber sie selbst hat Leo St. Martin geheiratet.
Sie wohnt in Garrison.«
Joan Lashley war das Mädchen, mit dem Andrea an
ihrem letzten Abend Hausaufgaben gemacht hatte!
Garrison lag in der Nähe von Cold Spring, nur eine
Viertelstunde Fahrt von hier. Es war klar, dass
Mrs. Hilmer für mich eine wahre Fundgrube war für
Informationen über die Leute, mit denen ich eventuell
noch reden wollte.
Als wir beim Kaffee angelangt waren, öffnete ich die
Reisetasche und legte einige der Zeitungen auf den Tisch.
Ich bemerkte, wie Mrs. Hilmers Gesichtsausdruck wech
selte, als sie die erste aufnahm. Die Schlagzeile lautete:
»Fünfzehnjährige brutal erschlagen«. Ein Bild von
Andrea füllte die Titelseite. Sie trug die Uniform des
Orchesters: eine rote Jacke mit Messingknöpfen und ein
dazu passender kurzer Rock. Ihre langen Haare fielen
offen
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