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Denn vergeben wird dir nie

Denn vergeben wird dir nie

Titel: Denn vergeben wird dir nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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und
Nacken zu lösen. An diesem Abend beschloss ich, noch
einen Schritt weiterzugehen. Ich ließ heißes Wasser in die
Badewanne ein und gab Badeöl dazu. Die Flasche war
nach einem halben Jahr immer noch fast voll, ein Zeichen
dafür, wie selten ich dazu komme, in die Wanne zu
steigen. Aber heute Abend verlangte ich danach, und
wirklich tat es mir gut, einfach nur dazuliegen und mich
zu entspannen. Ich blieb so lange liegen, bis das Wasser
anfing, kühl zu werden.
Es amüsiert mich immer, wenn ich Werbung für
verführerische, aufreizende Negliges und Morgenmäntel
sehe. Meine Nachtbekleidung besteht aus Nachthemden,
die ich mir aus dem Versandhauskatalog heraussuche. Sie
sind weit und bequem, und ihr Begleiter ist ein FlanellMorgenmantel. Dieses exquisite Ensemble wird noch
vervollständigt von gefütterten Hausschuhen.
Die zweitürige Spiegelkommode im Schlafzimmer
erinnerte mich an diejenige, die meine Mutter für Andreas
Zimmer weiß gestrichen und wieder in Schuss gebracht
hatte. Während ich meine Haare vor dem Spiegel bürstete,
dachte ich vergeblich darüber nach, was aus dieser
Kommode geworden war. Als Mutter und ich nach Florida
gezogen waren, hatten wir vergleichsweise wenig Möbel
mitgenommen. Ich bin sicher, dass nichts aus Andreas
stimmungsvollem Zimmer dabei gewesen war. Mein
damaliges Zimmer war auch schön, aber es war eher etwas
für kleine Mädchen, mit einer Schneewittchen-Tapete.
Plötzlich entsann ich mich, dass ich einmal vorwurfsvoll
zu meiner Mutter gesagt hatte, die Tapete sei etwas für
Babys, und sie geantwortet hatte: »Aber es ist fast die
gleiche wie diejenige, die Andrea in ihrem Zimmer hatte,
als sie in deinem Alter war. Und sie hat die Tapete
geliebt.«
Ich glaube, mir war schon damals bewusst, wie
verschieden wir waren. Ich war nicht vernarrt in diese
typischen Mädchensachen, und ich habe nie etwas darauf
gegeben, mich schön anzuziehen und herauszuputzen.
Andrea war, genau wie meine Mutter, betont weiblich.
»Du bist Daddys kleiner Schatz, wirst es immer sein …
Du bist mein Weihnachtsengel, mein Christbaumstern …
Und du bist Daddys kleiner Schatz.«
Ungebeten waren die Worte aus der Erinnerung
aufgestiegen, und ich sah einmal mehr Daddy in Andreas
Zimmer stehen, die Spieldose in der Hand und hilflos
schluchzend.
Es war eine Erinnerung, die ich immer sofort wieder
wegzuwischen suchte. »Bürste dir die Haare zu Ende und
geh ins Bett, Mädchen«, sagte ich laut.
Mit kritischen Augen betrachtete ich mich im Spiegel.
Normalerweise trug ich die Haare hochgesteckt, mit einem
Kamm festgehalten, jetzt aber fiel mir auf, wie lang sie
gewachsen waren. Im Sommer wurden sie immer von der
Sonne gebleicht; inzwischen waren sie wieder nachge
dunkelt, aber einzelne hellblonde Strähnen mischten sich
noch darunter.
Oft war mir die Bemerkung von Detective Longo durch
den Kopf gegangen, als er mich zum ersten Mal befragt
hatte, an dem Tag, an dem Andreas Leiche gefunden
worden war. Er hatte gesagt, mein Haar würde ihn, wie
das seines Sohnes, an die Farbe von Sand erinnern, auf
den die Sonne scheint. Das war so eine liebevolle
Beschreibung gewesen, und auch jetzt flößte mir die
Erinnerung an seine Worte ein tröstendes Gefühl ein.
Ich sah mir einen Teil der Elf-Uhr-Nachrichten an, nur
um mich davon zu überzeugen, dass die Welt außerhalb
von Oldham noch mehr oder weniger in Ordnung war.
Dann überprüfte ich, ob die Fenster im Wohnzimmer
zugeriegelt waren, und ging ins Schlafzimmer. Der Wind
wehte kräftig, daher öffnete ich die beiden Schlafzimmer
fenster nur ein paar Zentimeter. Der kühle Luftzug ließ
mich hastig den Morgenmantel über das Fußende werfen,
unterwegs die Hausschuhe abstreifen und unter die Decke
schlüpfen.
In meiner Wohnung in Atlanta fiel es mir nie schwer,
einzuschlafen. Aber dort war natürlich alles anders. Dort
hörte ich die fernen Straßengeräusche und manchmal
Musik aus der Wohnung meines direkten Nachbarn, einem
Liebhaber von Hard Rock, der nicht selten seine CDs in
ohrenbetäubender Lautstärke abspielte.
Ein freundlich gemeintes Donnern mit der Faust gegen
unsere gemeinsame Wand zeitigte immer ein promptes
Resultat, aber auch so hatte ich mich daran gewöhnt, beim
Wegdösen gelegentlich metallische Vibrationen wahrzu
nehmen.
Heute Abend hätte ich nichts gegen ein paar metallische
Vibrationen einzuwenden als Zeichen, dass noch andere
Menschen in der Nähe sind, dachte ich, während ich

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