Denn vergeben wird dir nie
sagen, ob Paulie durchkommen werde.
Dann stellte sie sich vor: »Ich bin Greta Bergner. Ich
arbeite mit Mrs. Stroebel und Paulie im Laden. Ich dachte
zuerst, Sie seien von der Presse.«
Während der folgenden zwölf Stunden saßen wir
beisammen. Von Zeit zu Zeit standen wir auf, gingen in
die Station und blieben am Eingang zu der Kammer
stehen, in der Paulie lag, das Gesicht von einer Sauerstoff
maske bedeckt, Schläuche an den Armen, dicke Verbände
an den Handgelenken.
In dieser langen Nacht konnte ich die allergrößte
Verzweiflung auf dem Gesicht von Mrs. Stroebel ablesen,
ich sah, wie ihre Lippen sich in stummem Gebet
bewegten, und unvermittelt begann ich selbst zu beten.
Zunächst war es ein instinktives, doch dann wurde es zu
einem bewussten Gebet. Wenn du Paulie am Leben lässt,
dann werde ich versuchen, alles, was geschehen ist, zu
akzeptieren. Vielleicht wird es mir nicht gelingen, aber ich
schwöre, dass ich es versuchen werde.
Draußen begannen einzelne Lichtstreifen die Dunkelheit
zu durchdringen. Um Viertel nach neun betrat ein Arzt das
Wartezimmer. »Paulies Zustand hat sich stabilisiert«,
sagte er. »Er wird durchkommen. Sie sollten jetzt besser
nach Hause gehen und etwas schlafen.«
Vom Krankenhaus nahm ich ein Taxi; unterwegs bat ich
den Fahrer anzuhalten, damit ich mir die Morgenzeitungen
holen konnte. Ich brauchte nur einen Blick auf die
Titelseite der Westchester Post zu werfen, um froh darüber
zu sein, dass Paulie Stroebel in der Intensivstation keine
Zeitungen lesen konnte.
Die Schlagzeile lautete: »Mordverdächtiger begeht
Selbstmordversuch«.
Der verbleibende Platz auf der Titelseite wurde von den
Bildern dreier Personen eingenommen. Das linke Foto
zeigte das ausgemergelte Gesicht von Will Nebels, der
sich bemüht hatte, für die Kamera eine selbstsichere
Miene aufzusetzen. Das rechte Bild zeigte eine Frau von
etwa Mitte sechzig mit einem besorgten Gesichtsausdruck,
der ihre strengen Züge betonte. Das mittlere Foto zeigte
Paulie hinter der Ladentheke, ein Brotmesser in der Hand.
Das Bild war so zurechtgeschnitten worden, dass nur die
Hand mit dem Brotmesser zu sehen war. Was sich
darunter befand, fehlte, vielleicht ein Stück Baguette, das
für ein Sandwich aufgeschnitten werden sollte. Er blickte
mit zusammengezogenen Augenbrauen in die Kamera.
Ich vermutete, dass Paulie überrumpelt worden war, als
dieser Schnappschuss gemacht wurde. Wie auch immer,
das Bild vermittelte den Eindruck eines mürrischen
Mannes mit einem beunruhigenden Blick, der eine Waffe
in der Hand hielt.
Die Bildunterschriften bestanden aus Zitaten. Unter
Nebels’ Foto war zu lesen: »Ich wusste, dass er der Täter
ist.« Die Frau mit den strengen Zügen hatte gesagt: »Er
hat es mir gegenüber zugegeben.« Das Zitat von Paulie
lautete:
»Es tut mir so furchtbar Leid.«
Der Artikel befand sich auf Seite drei, aber ich musste
die Lektüre abbrechen, weil das Taxi vor dem Gasthaus
hielt. Einmal in meinem Zimmer angekommen, nahm ich
mir die Zeitung sofort wieder vor.
Bei der Frau auf der Titelseite handelte es sich um
Lillian Beckerson, die seit einunddreißig Jahren für
Mrs. Dorothy
Westerfield den Haushalt besorgte.
»Mrs. Westerfield
ist
der edelste und großherzigste
Mensch, dem ich je begegnet bin«, wurde sie in der
Zeitung zitiert. »Ihr Ehemann war Senator der Vereinigten
Staaten, und dessen Großvater war Gouverneur von New
York. Seit mehr als zwanzig Jahren muss sie mit diesem
Schandfleck auf dem guten Ruf der Familie leben. Und in
dem Moment, wo ihr einziger Enkel versucht, seine
Unschuld zu beweisen, kommt diese Frau zurück, die als
Kind im Zeugenstand gelogen hat, und versucht, ihn auf
ihrer Website ein zweites Mal zu zerstören.«
Damit bin wohl ich gemeint, dachte ich.
»Gestern Nachmittag hat Mrs. Westerfield diese Website
gesehen und geweint. Ich konnte es nicht mehr ertragen.
Ich bin zu diesem Feinkostgeschäft gegangen und habe
den Mann zur Rede gestellt und ihn aufgefordert, endlich
die Wahrheit zu sagen und seine Tat einzugestehen.
Wissen Sie, was er mir daraufhin geantwortet hat? ›Es tut
mir Leid, es tut mir Leid.‹ Also, sagen Sie ehrlich, würde
jemand so antworten, wenn er unschuldig wäre? Ich
glaube nicht.«
Er würde, sofern er Paulie Stroebel heißt. Ich zwang
mich weiterzulesen. Als Journalistin konnte ich leicht
erkennen, dass Colin Marsh, der Kerl, der diesen Artikel
geschrieben hatte, einer dieser
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