Denn vergeben wird dir nie
lassen.
»Lassen wir dieses Thema lieber fallen«, sagte ich. »Wir
werden uns nicht einig werden.«
Joan lieh mir dreihundert Dollar, und uns gelang beiden
ein aufrichtiges Lächeln, als ich die Rechnung beglich.
»Ist zwar eher symbolisch«, sagte ich, »aber jetzt geht es
mir besser.«
Wir verabschiedeten uns im Vestibül an der Eingangstür.
»Du Ärmste musst dich jetzt immer die Treppe hinauf
quälen«, meinte sie mit besorgter Miene.
»Es lohnt sich, allein schon wegen des Blicks. Und ich
kann mich auf mein Werbegeschenk stützen.« Um meine
Worte zu unterstreichen, tippte ich den Gehstock ein paar
Mal auf den Boden.
»Ruf mich an, wenn du etwas brauchst. Ansonsten
werde ich mich morgen wieder melden.«
Ich zögerte, noch einmal eine Sache zur Sprache zu
bringen, in der wir uns nicht einig waren, aber es gab da
noch etwas, was ich sie fragen musste. »Joan, ich weiß,
dass du diesen Anhänger, von dem ich sicher weiß, dass
Andrea ihn getragen hat, nie zu Gesicht bekommen hast,
aber hast du noch Kontakt zu irgendwelchen Mädchen, die
mit dir und Andrea auf der Schule waren?«
»Natürlich. Und nach allem, was in letzter Zeit passiert
ist, werden sie sich garantiert bei mir melden.«
»Könntest du sie direkt fragen, ob eine von ihnen
irgendwann diesen Anhänger, den ich dir beschrieben
habe, an Andrea bemerkt hat? Golden, herzförmig,
Verzierungen am Rand, in der Mitte kleine blaue Steine
und auf der Rückseite ›A‹ und ›R‹, die Initialen von
Andrea und Rob, eingraviert.«
»Ellie …«
»Joan, je öfter ich darüber nachdenke, desto sicherer bin
ich mir, dass Rob nur aus einem einzigen Grund wieder in
die Garage zurückgekehrt ist, nämlich, weil er auf keinen
Fall zulassen konnte, dass der Anhänger an Andreas
Leiche gefunden würde. Ich muss herausfinden, warum,
und es würde mir ein Stück weiterhelfen, wenn irgend
jemand bestätigen könnte, dass es ihn gegeben hat.«
Joan machte keine weiteren Einwände. Sie versprach
mir, sich nach dem Anhänger zu erkundigen, und verließ
mich, um nach Hause zu fahren und sich wieder ihrem
normalen Leben mit Ehemann und Kindern zu widmen.
Ich humpelte die Treppe hinauf in mein Zimmer, mich
dabei fest auf den Gehstock stützend, schloss die Tür
hinter mir ab, zog vorsichtig die Schuhe aus und ließ mich
auf das Bett sinken.
Ich wurde vom Telefon geweckt. Zu meinem Erstaunen
war es im Zimmer bereits dunkel. Ich rappelte mich auf,
tastete nach dem Lichtschalter und warf einen Blick auf
die Uhr, während ich den Hörer auf dem Nachttisch
aufnahm.
Es war acht Uhr. Ich hatte sechs Stunden geschlafen.
»Hallo.« Meine Stimme klang benommen.
»Ellie, ich bin’s, Joan. Es ist etwas Schlimmes passiert.
Die Haushälterin der alten Mrs. Westerfield ist heute
Nachmittag in Stroebels Feinkostgeschäft gegangen und
hat Paulie angeschrien, er solle endlich zugeben, dass er
Andrea getötet hätte. Sie hat gesagt, es sei seine Schuld,
dass die Westerfields diese unerträglichen Qualen
ausstehen müssten.
Ellie, vor einer Stunde hat sich Paulie zu Hause im
Badezimmer eingesperrt und sich die Pulsadern
aufgeschlitzt. Er liegt im Krankenhaus auf der Intensiv
station. Er hat. so viel Blut verloren, dass sie zweifeln, ob
er überleben wird.«
28
IM WARTEZIMMER VOR DER Intensivstation traf ich
auf Mrs. Stroebel. Sie weinte leise, Tränen liefen ihr über
die Wangen. Ihre Lippen waren fest zusammengepresst,
als ob sie befürchte, dass sich eine Welle unbezähmbaren
Schmerzes lösen würde, wenn sie sie öffnete.
Sie hatte ihren Mantel über die Schultern gelegt, und
obwohl Jacke und Rock dunkelblau waren, sah ich dunkle
Flecken darauf, die vermutlich von Paulies Blut stammten.
Eine breit gebaute, einfach gekleidete Frau um die
fünfzig saß dicht neben ihr, wie um sie zu beschützen. Sie
warf mir einen feindseligen Blick zu.
Ich war mir nicht sicher, wie Mrs. Stroebel reagieren
würde. Immerhin war es meine Website gewesen, welche
die verbale Attacke der Haushälterin von Mrs. Westerfield
und Paulies Verzweiflungstat ausgelöst hatte.
Aber Mrs. Stroebel stand auf und kam mir durch das
halbe Zimmer entgegen. »Sie wissen es, Ellie«, schluchzte
sie. »Sie wissen, was sie meinem Sohn angetan haben.«
Ich umarmte sie. »Ja, das weiß ich, Mrs. Stroebel.« Ich
blickte über ihren Kopf hinweg auf die andere Frau. Sie
erriet meine stumme Frage und machte eine Handbe
wegung, die mir bedeuten sollte, man könne noch nicht
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